•Breath me - Sia• [2×hintereinander hören]
»Auf einer Skala von eins bis Zehn, wie geht es dir? Zehn heißt, sehr gut und eins heißt sehr schlecht.«
»Minus Zehn.«
»Und du bist dir sicher, dass du nicht in eine psychiatrische Klinik möchtest?«
»Nein.«
»Möchtest du hier bleiben?«
»Nein.«
»Möchtest du deine Eltern sehen?«
»Nein.«
»Was möchtest du?«
»Sterben.«
Frau Kleinhais seufzte, lächelte mich aber dennoch an.
Ich mochte sie. Ich wollte nicht hier bleiben, aber ich wollte bei ihr bleiben. Sie war so freundlich und verständnisvoll und gab mir das Gefühl, mir wirklich helfen zu wollen. Sie war die erste Person, bei der ich das Gefühl hatte, dass sie mir wirklich helfen wollte.»Hör zu, Penny. Deine Eltern stehen momentan im Kontakt mit dem Jugendamt und das Jugendamt mit uns. Wir warten alle nur auf dich. Wenn du sie sehen willst, dann kannst du das sofort. Du musst so oder so zum Jugendamt, es wird passieren. Du kannst hier nicht für immer bleiben. Du wirst eine Therapeutin aufsuchen müssen, wenn du nicht in die Klinik kommst. Ich kenne deine Diagnose, ich weiß was du brauchst. Aber was willst du?«
Ich unterdrückte meine Tränen. Nicht weinen. Bloß nicht weinen. Keine Schwäche zeigen. Die Maske darf nicht bröckeln.
Was wollte ich?»Hier darf man weinen, Penny.«
Mein Stichwort. Die Tränen strömten meine Wangen herunter.
»Ich will das nicht!« ,schluchzte ich.
»Was?« ,fragte sie mich.
Hysterisch stand ich auf und schmiss meinen Stuhl aggressiv um. »DAS« ,schrie ich, »Alles, dieses Leben, das will ich nicht.«
Ich wusste nicht, was mit mir los war. Manchmal passierte das. In meinem Kopf baute sich ein Druck auf, mir wurde ganz heiß und ich sah mich nicht mehr, ich fühlte mich nicht mehr. Ich spürte mich nicht. Ich wurde ganz wütend und verspürte das Bedürfnis, etwas zu schlagen oder kaputt zu machen. Mein Atem ging stoßweise, meine Tränen verschleierten mir die Sicht. Ich wollte hier raus, aber die Tür war abgesperrt.
Vor dem Fenster waren Gitter.Sekunden später rannte Frau Kleinhais auf mich zu und packte mich. Sie hatte einen festen Griff und umklammerte meine Arme.
»Atme.« ,befehlte sie.
Ich versuchte ihr zu gehorchen und zu atmen.
»Du zählst jetzt bis zehn. Dann beantwortest du diese Fragen in Gedanken: Wer bist du? Wie alt bist du? Wann hast du Geburtstag? Wo bist du? Was siehst du? Was hörst du? Was riechst du? Was schmeckst du? Und atmen, Penny, atme ein und aus, ein und aus und schließe die Augen, beruhige dich.«Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn. Ich bin Penny Kartal. Ich bin fünfzehn. Ich habe am 10.07. Geburtstag. Ich bin im Kinder-und Jugendschutzzentrum in der Klosterstraße. Ich sehe Frau Kleinhais. Ich rieche Leder. Ich schmecke salzige Tränen.
Ich atmete wieder normal.
Es kamen keine neuen Tränen und mein Zittern hörte auf.
Frau Kleinhais setzte mich auf die Liege und ich ließ sie machen. Ich starrte auf die Wand gegenüber.
Ich würde sie niemals vergessen. Sie war gelb und in der Mitte hing ein Kalender. Ich konzentrierte mich auf den Kalender.
Aus dem Augenwinkel nahm ich war, wie Frau Kleinhais in den Hörer etwas sagte. Wen hatte sie angerufen?
Ich erfuhr es in wenigen Minuten, als die Frau, die mich hier empfangen hatte und ein mir fremder Mann in das Zimmer gestürmt kamen.
»Sie braucht das neue Zimmer.« ,sagte Frau Kleinhais.
Die Frau vom Empfang und der fremde Kerl packten mich jeweils links und rechts an meinen Armen.
Sie zogen mich auf die Beine und ließen mich eine Sekunde kurz durch atmen. Dann führten sie mich raus. Ich sah noch, Frau Kleinhais mir ermutigend zu lächeln, dann fiel die Tür hinter mir ins Schloss.
Meine Sachen waren noch unten.
Ich wusste nicht, wohin wir gingen.
Wir stiegen eine Treppe hoch und blieben vor einer Tür stehen. Von unten kamen die Stimmen der Kinder.
Die Frau vom Empfang kramte einen Schlüssel aus ihrer Hosentasche und öffnete die Tür.
Ich lief langsam hinein, die beiden hatten mich längst losgelassen.
Es war ein Schlafzimmer. Es war relativ groß. Links stand ein Bett, unter der Dachschräge, daneben ein Schrank und links neben der Tür eine Kommode.
Das gleiche auf der rechten Seite. In der Mitte lag ein kleiner, runder Teppich. Er war rot-blau gestreift.
In der Mitte der Wand, der ich gegenüber stand, war ein Fenster.
Ich lief auf das Fenster zu und wollte es öffnen, wollte Luft, zum atmen, doch blieb stehen, als ich das Gitter sah.
Trotz der Verzweiflung wollte ich das Fenster öffnen, doch vergeblich. Es war abgeschlossen.
Langsam drehte ich mich um.
»Wieso geht mein Fenster nicht auf?«
Der Mann sah mir nicht in die Augen, sondern starrte an mir vorbei. Die Frau vom Empfang lächelte vorsichtig.
»Damit dir nichts passiert, Liebes.«
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Oktobertrauer
Short StoryIm Oktober 2015 kam die Welle der Trauer und ich rannte davon. - #134 in kurzgeschichten -30.juli 2017 #406 in depressionen - 1.oktober 2018 #574 in mobbing