Identitätsklärung

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Regen prasselt auf die bereits feuchte Erde, ein böiger Wind weht. Man hört qualvolle Schreie, das Galoppieren von Pferden und verzweifelte Anweisungen von allen Seiten. Chaos ist ausgebrochen, etwas muss schrecklich schiefgelaufen sein. Eine Frau vor mir in der selben Uniform wie ich, laute Donnergeräusche von vorne, wir machen uns zum Kampf bereit. Ein letzter Blickkontakt der Zuversicht und wir gehen auf den Titanen los. Wir wissen, was wir zu tun haben und werden kämpfen bis zum Schluss.

Schnell, es läuft alles viel zu schnell ab. Ich kann nicht mehr rechtzeitig reagieren, genauso wenig wie sie – meine beste Freundin, wie eine Schwester für mich in den vergangenen Jahren. Ihr Blut überall, von einer Sekunde zur anderen weicht das Leben aus ihrem Körper. Vom Titanen zerquetscht wie ein lästiges Insekt, das darf nicht sein. Wieso ausgerechnet sie? So... ohne Respekt... ohne Achtung... Ohne mit der Wimper zu zucken nahm das Wesen mit dem leeren Blick ihr das Leben. Auf skrupellose Art und Weise.

Überall verlorene Körperteile, Opfer, kaputte 3D-Manövergeräte und ein paar Aschehaufen – Opfer der gegnerischen Seite. Tod überall und keine Zeit zu ruhen. Die Toten ruhen mehr als genug und wir können nur weiterkämpfen mit den Kräften, die uns bleiben.

Ein harter Schlag an meinem Körper – ich war unachtsam. Wie dumm von mir. Mir ist ein Fehler unterlaufen und bevor alles schwarz wird, spüre ich einen harten Aufprall auf meinen Hinterkopf. Ist es nun vorbei?

Gewaltsam reiße ich meine Augen auf, unregelmäßig schnell und unaufhörlich geht mein Atem, mein Herz rast als wäre es auf der Flucht. Es war kein Traum, es war eine Erinnerung – eine furchtbare noch dazu. Meine Hand wandert zu meiner feuchtwarmen Stirn, ich seufze auf – es ist vorbei.

Es ist bereits der dritte Morgen, Sonnenlicht erhellt warm den Raum durch das Fenster und ich richte mich auf, ohne auf meine Schmerzen zu achten. Auf der Kommode liegt weiterhin meine Uniform und erinnert mich erneut an meine gegenwärtige Lage. Ich streiche unsicher über den Stoff, über die Löcher, wo meine Wunden waren. Sie kamen eindeutig von diesem Kampf. Kein Zweifel. Ich wollte sie rächen, habe dabei aber nicht aufgepasst und den anderen Titanen übersehen, aber er hatte mich nur schwach getroffen. Dennoch stark genug um meine Erinnerungen auszulöschen, damit hatte ich wahrscheinlich deutlich mehr Glück als viele andere. Menschen sind wie Insekten für Titanen – scheinbar wertlos.

Meine Wange ist feucht von den Tränen. Schwester, es tut mir leid, dass ich überlebt habe und du nicht. Es tut mir leid, dass ich es irgendwie geschafft habe und nicht bei dir bin. Ich bin schuldig, weil ich dich weder retten, noch rächen konnte. Wie dumm ich doch war...

„Mittlerweile ist sie jetzt ansprechbar." Das ist Beatrice, die Krankenschwester, ihre Stimme erkenne ich deutlich wieder. Noch jemand wird wohl bei ihr sein. Sind sie auf dem Weg zu mir?„Jedoch kann sie sich an nichts erinnern. Deswegen wäre Ihre Mithilfe bei der Klärung ihrer Identität wunderbar. Damit auch Verwandte und Bekannte verständigt werden können."

Verstohlen wische ich mit dem Ärmel meines Hemdes die Tränen aus dem Gesicht und ich atme die vorherige Unsicherheit aus. Niemand wird meine Schwäche sehen. In diesem Moment öffnet sich die Tür und zwei Personen betreten den Raum; Beatrice, die mich überrascht ansieht, und ein Mann, der mich unbeeindruckt zu mustern beginnt. Die Uniform des Aufklärungstrupps registriere ich sofort an ihm.

„Warum stehen Sie hier? Sie sollten sich ausruhen!", meint Beatrice, die augenblicklich auf mich stürzt und mir zurück ins Bett verhilft. Wirke ich so schwach? Ihre blauen Augen sehen mich besorgt an, es ist so vertraut, diese übertrieben fürsorgliche Art. Ohne Widerrede lasse ich ihre Hilfe über mich ergehen.

„Ich habe schlecht geträumt...", entgegne ich mit einem Lächeln, was mir in dieser Situation als Maske dient. „So bin ich nur aufgestanden um meine Gedanken ein wenig zu sammeln."

„Erkennen Sie sie?", erkundigt Beatrice sich dann vorsichtig bei dem Besucher und ich bin froh, dass sie nicht weiter auf das Thema eingeht. Ansonsten würde ich dann vermutlich Schwäche zeigen...

Der Mann, der der Situation weiterhin nicht sonderlich zugetan zu sein scheint, tritt einige Schritte auf mich zu. Er ist nicht gerade groß, strahlt aber eine außergewöhnliche Ernsthaftigkeit und Autorität aus, dass mir der Atem stockt. Sein durchbohrender Blick macht die Sache auch nicht besser. Als würde er meine Gedanken versuchen zu lesen. Endlich öffnet er den Mund und murmelt: „So ein Kind kann man nicht vergessen..."

Kind? Hat er tatsächlich Kind gesagt?! Ich öffne empört den Mund um zu widersprechen, doch ich werde von einer begeisterten Krankenpflegerin unterbrochen mit: „Das heißt, Sie kennen sie?"

„Können Sie uns einen Moment alleine lassen? Weiteres klären wir, bevor ich mich wieder auf den Weg mache." Beatrice beginnt aufgeregt zu nicken und lässt mich mit dem Mann alleine – na großartig.

„Kind", wiederhole ich ernüchtert, als wir alleine im Raum sind und wage es nicht meinem Besucher weiterhin in die Augen zu blicken.

Der Mann setzt sich auf den einzigen Stuhl im Raum und sieht mich vermutlich immer noch mit diesem durchbohrenden Blick an. „Es gibt Dinge, die sich wahrscheinlich niemals ändern. Sie können sich also wirklich nicht erinnern?" Bestätigend nicke ich nur und eine kurze Pause entsteht. „Worüber handelte Ihr Traum?"

„Warum soll ich mit einem fremden Mann meine Träume teilen, der mich zuvor als Kind betitelt hat?" Durchatmen, er hat nur nachgefragt. Ich werde mich nicht provozieren lassen. Vielleicht kann er mir bei dem Puzzle helfen, vielleicht war er ja auch dabei. „Ich habe mich wahrscheinlich an den Kampf erinnert. Ich weiß, dass eine wichtige Person für mich vor meinen Augen von einem Titanen getötet wurde und ich sie rächen wollte. Dabei war ich unachtsam und wurde verletzt. Es war wohl verdammt viel Glück im Spiel, dass ich nur meine Erinnerungen verloren habe und nicht auch noch mein Leben."

„Nur ein Kind kämpft lediglich aus Rache und wird dabei unachtsam." Wahrscheinlich genießt dieser Mann es mich ein Kind zu nennen. „Ich bin Levi Ackermann."

Nun muss ich ihn doch ansehen und nicke langsam. Ich muss schlucken, weil sich ein Klos in meinem Hals gebildet hat. Wieso muss ich jetzt so eine Schwäche zeigen? Ich war Soldatin, da muss ich stark bleiben. Beschämt wende ich mein Gesicht ab, ich bin wirklich ein Kind.

Ein Name dringt aus seinem Mund – mein Name? Überrascht sehe ich ihn an, weil er diesen auf einmal so anders ausgesprochen hat, weniger distanziert und kühl. Sein Blick gibt mir eines zu verstehen; es ist ohne Zweifel mein Name gewesen, den er eben ausgesprochen hat. Stumm wiederhole ich ihn immer und immer wieder mit meinen Lippen.

Attack on Titan - FanfiktionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt