Es hätte alles anders kommen können

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Das Haus ist gemütlich eingerichtet, wenn es auch klein ist. Jedoch werde ich hier zumindest mehr Privatsphäre haben als in der Pension mit den Flüchtlingen vorhanden war. Meine Mutter führt mich ohne Umschweife in die Küche, wo ich mich vorsichtig an den Tisch setze, während sie Wasser für Tee erhitzt. In ihren Gedanken verloren erzählt sie: „Wir hatten Glück, dass wir bei Tante Erika unterkommen konnten. Sie war sogar glücklich, dass wir zu ihr kamen... Kennst du noch unser altes Zuhause?“

Langsam zucke ich mit den Schultern und schaue ihr ernst in die grün schimmernden Augen. „Ich habe es in einer Erinnerung gesehen. Am Abend meines... Abschieds. Das war bisher meine einzige Erinnerung.“

Sie setzt sich mir gegenüber, ein bitteres Lächeln zieht sich über ihr Gesicht. „Die schlimmste Erinnerung kam dir scheinbar zuerst in den Sinn... Wir hatten es alle nicht leicht und hätten wir damals gewusst... Es hätte alles anders kommen können.“

Darauf kann ich nichts erwidern. Was möchte sie mir denn nun sagen? Es scheint ihr auf jeden Fall nicht leicht zu fallen den Anfang zu finden.

„Es ist nicht leicht dich heute anzusehen und zu wissen, dass du kaum etwas über dein eigenes Leben weißt. Als wäre ein Teil von dir verloren gegangen...“ Ein Teil von mir. Da ich darauf nichts erwidern kann, setzt meine Mutter ihren Monolog fort. „Übrigens der Mann, der dich hierhin eskortiert hat, der hatte was...“

Ohne mich von dieser Feststellung beirren zu lassen, hake ich nach: „Du möchtest nicht über Vater sprechen, oder?“

Überrascht streifen mich nun die Augen meiner Mutter und sie schmunzelt. Offenbar habe ich damit vollkommen richtig gelegen. Unsicher setzt sie fort: „Es war für ihn wohl am schwersten, dass du nicht mehr da warst. Vor allem nach dem, was zwischen euch vorgefallen ist. Er hat viel gesehen, viele schreckliche Dinge wie so viele von uns. Das alles wollte er immer vergessen mit der Hilfe vom Alkohol. Als uns dann die Nachricht von deinem... Verschwinden erreicht hat und wir damit rechnen mussten, dass du... Das war zu viel für ihn.“

„Er... Er lebt also nicht mehr.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe. Sollte ich etwas empfinden? Sollte sein Tod mir nahe gehen? Habe ich ihm nahe gestanden, wenn man die eine, unglückliche Erinnerung nun außen vor lässt? Nichts davon kann ich beantworten und ich fühle mich als Tochter ein wenig schuldig dafür.

„Der Vorfall ist mit dem Vorfall in Trost zusammen gefallen, wo die Titanen Mauser Rose überwinden konnten... Zu dem Zeitpunkt waren wir eigentlich dort um Getreide an die hiesigen Händler zu verkaufen. Der Alkohol hat ihn zu einem Monster verwandelt, eine andere Art von Monster als hinter den Mauern auf uns wartet. Danach wäre es auf dem Hof nicht mehr dasselbe gewesen und Erika brauchte Hilfe in ihrer Bäckerei... So kamen dein Bruder und ich dann her.“ Ihre Hand findet meine und sie bemerkt: „Du bist so dünn geworden. Nach der Reise bist du bestimmt hungrig... Natürlich bist du das. Warte einen Moment...“

Schnell steht sie wieder und schafft Brot und einige Sorten Käse und Fleisch herbei. Es ist wirklich mütterlich, wie sie mich so direkt nach der Ankunft versorgt – fast genauso fürsorglich hatte Beatrice mich behandelt. Alles wird mit Besteck vor meine Nase hingestellt, bevor sie noch zwei Tassen Tee vorbereitet. Instinktiv frage ich, wobei ich mir dennoch ein paar Scheiben Brot abschneide: „Müssen wir unsere Vorräte nicht sparen?“

Wegen meiner Frage blickt meine Mutter mich vorwurfsvoll an, als hätte ich sie mit dieser persönlich beleidigt. „Iss einfach, damit du wieder zu Kräften kommst... Hast du wirklich vor dorthin zurück zu kehren?“

Bei dieser Frage klang ihre Stimme gedämpft. Es liegt auf der Hand, dass sie damit auf das Militär angespielt hat. Behutsam nippe ich an meinem heiß dampfenden Tee, den meine Mutter gerade auf dem abgenutzten Holztisch abgestellt hat. „Ja, ich glaube schon. Die letzten Monate habe ich dort verbracht und dort finde ich vielleicht etwas heraus, was ich hier nicht könnte.“

„Gut, dann wirst du dich vorher allerdings von unserem Arzt untersuchen lassen.“ Ich beiße in das Brot, worauf ich zuvor eine Käsescheibe drapiert habe, und meine Mutter fährt fort: „Mir ist nicht entgangen, wie du beim Laufen versuchst ein Bein weniger zu belasten, bei unserer Umarmung bist du auch vor Schmerz zusammen gezuckt.“

Das gehört wohl zu den Dingen, die nur eine Mutter erkennen könnte – selbst ich habe nicht so darauf geachtet. Wohlwollend sieht meine Mutter mir beim Essen zu und überlegt laut: „Ich glaube, heute Abend koche ich uns eine Suppe.“

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