Das Leid anderer

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Eine Patientin tritt langsam aus der linken Tür neben dem Empfang. Zumindest vermute ich, dass es eine Patientin ist. Ihr linker Arm ist verbunden, aber durch die Länge kann man erahnen, dass dort ein Stück fehlt. Ob das auch Spuren der heutigen Zeit sind? Die Vermutung liegt zumindest nahe. Der Blick aus ihren blauen Augen wirkt leer und distanziert. Als hätte sie die Verbindung zu dieser Welt verloren. Jeder geht anders mit Leid um, denke ich mir.

Hinter der Patientin kommt ein Mann mittleren Alters zum Vorschein. Er ist relativ groß, schlank und einige graue Haare schimmern zwischen seinen dichten, braunen Strähnen hindurch. Ob das Doktor Sander ist? Ärzte sehe ich irgendwie meistens als gestandene, ältere Herren an, aber irgendwoher muss der Nachwuchs ja kommen. Jedenfalls lassen ihn seine weichen Gesichtszüge und dezente Lachfalten nicht unsympathisch wirken - das ist gut. Der Mann sagt zu der Frau: "Sie machen sich wirklich gut. Ihre Umstände machen es ihnen nicht einfach. Lassen Sie sich nicht unterkriegen und kommen Sie wieder, wenn sich etwas verschlechtern sollte. Ansonsten gibt Frau Rosenberg Ihnen gleich den nächsten Termin."

"Der Familie geht es schlecht. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll, wenn wir die Medikamentenkosten nicht mehr tragen können. Ich kann die Schmerzen nicht ertragen!"

"Ich mache Ihnen nichts vor, es ist schwer zu sagen wie lange die Medikamente reichen werden und Sie wissen, wie es hier zugeht..."

"Die Obrigkeiten, die nicht gekämpft haben kriegen für jede Kleinigkeit Medikamente und wir dürfen sehen, wie wir mit den Schmerzen und Bildern weiterleben können." Ihre schmalen Schultern sinken weiter in sich zusammen, doch sie nickt verständlich und es wirkt, als hätte sie mit ihrem Schicksal abgeschlossen. Als wollte sie nicht weiter kämpfen, da es aussichtslos ist.

Doktor Sander mustert sie verständnisvoll, bleibt dann mit seinem Blick an mir hängen. "Eine weitere Überlebende. Guten Tag, ich habe Sie schon erwartet."

"Guten Tag", erwidere ich stumpf, nicht wissend, ob das Gespräch mit der anderen Patientin jetzt vorbei ist oder nicht. 

"Ich danke Ihnen für Ihre Mühen", verabschiedet sich die Patientin und widmet sich letztendlich dem Empfang zu. Gut, das Gespräch scheint nun offensichtlich beendet zu sein.

Der Arzt behandelt mich nicht wesentlich anders als Beatrice, er sieht meine Verletzungen nach, verrenkt meinen Körper, dokumentiert meine Reaktionen auf Schmerz und wechselt meine Verbände. Doch er verwendet wesentlich mehr Begriffe, die mir ein Rätsel sind und er scheint sich auch wesentlich mehr für meine Erinnerungslücken zu interessieren.

"Natürliche Abläufe wie Essen und die Benutzung der Sprache scheinen Ihnen nicht abhanden gekommen zu sein", stellt er nach einer Weile fest.

"Das wäre ja noch schöner", murmle ich, beäuge ihn aber vorsichtig - wie reagiert er auf meinen Sarkasmus?

"Die größte Lücke scheint mit dem Moment zusammen zu hängen, an dem Sie ihre Erinnerungen auch verloren haben. Bei vielen Patienten hängt dies auch mit traumatischen Erlebnissen zusammen - was nicht verwunderlich ist. Dies scheint für Sie wohl ungewöhnlich klingen, aber es ist gut, dass Sie nicht noch mehr vergessen haben... und dass Sie noch einen gewissen Sinn für Humor besitzen."

"Meine Mutter scheint Ihnen viel von mir erzählt zu haben. Mir wäre gar nicht in den Sinn gekommen, dass ich noch mehr vergessen könnte. Ich habe meine Kindheit vergessen, meine Jugend, meine Freunde und Familie - es fühlt sich so an, als hätte ich schon alles Wichtige vergessen. Sie scheinen sehr viel darüber zu wissen."

Nachdem der Doktor noch einmal in meine Augen geschaut hat und meinen Hals abtastet, hält er einen Moment inne und erwidert: "Ich interessiere mich für Menschen und den menschlichen Körper - deswegen bin ich Doktor geworden. Solche Fälle sind selten, aber sie gibt es. Es gibt Menschen, die sogar ihren Schluckreflex verlieren und Probleme bei der Nahrungsaufnahme haben. Während meines Studiums hatte ich Kontakt mit jemanden, der sich auf das menschliche Gehirn spezialisiert hat und durch ihn habe ich viel gelernt, aber bei Weitem noch nicht genug."

Etwas funkelt in den Augen des Doktors auf, der wirklich in seinem Element zu sein scheint. Bin ich Patientin oder ein Forschungsobjekt? Ich weiß es nicht und es interessiert mich eigentlich auch nicht. Erst einmal muss ich gesund werden... Auch wenn ich noch nicht genau weiß, was danach mit mir geschieht.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 04, 2017 ⏰

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