Am nächsten Morgen blieb ich lange genug im Bett, um sicher zu sein, dass meine Schwestern und ihre Männer abgereist waren. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt länger als einen Tag geblieben waren. Obwohl zumindest Celia es nie zugeben würde, waren sie allesamt froh, den Turm zu verlassen und in ihre eigenen, weitaus komfortableren Häuser zurückkehren zu können. Mein Vorschlag, die Familientreffen an einem anderen Ort durchzuführen, wurde dennoch einstimmig abgelehnt — vielleicht, weil sie dann keine Ausrede mehr hätten, dem Rest der Familie alsbald wieder den Rücken zukehren. Ob ich an ihrer Stelle anders handeln würde, wagte ich zugegebenermaßen zu bezweifeln.
So sehr ich mein Zuhause auch manchmal verabscheute, es hatte den Vorteil, dass ich meine Ruhe hatte. Falls es jemanden interessierte, wie ich den Tag verbrachte, dann nicht genug, um mich danach zu fragen oder gar darauf zu beharren, mir Aufgaben zuzuweisen. Noch war es zu kalt, um von früh bis spät durch die umliegenden Wiesen und Wälder zu streifen, doch spätestens in einigen Wochen würde mich nichts davon abhalten können. Bis dahin musste ich damit vorliebnehmen, am Fenster zu sitzen und ein Kissen zu besticken, an dem ich schon seit zwei Jahren mehr oder weniger angestrengt arbeitete. Es wäre sinnvoller, stattdessen die Löcher in Socken und Kleidern zu stopfen, aber Mutter bestand entgegen aller Vernunft darauf, diese Aufgabe einer der beiden Mägde zu überlassen. Nur weil wir arm waren, müssten wir uns nicht entsprechend verhalten.
„Cecilia hat sich gestern wieder eine halbe Stunde darüber aufgeregt, dass Ihr und Vater nicht zum Essen gekommen seid", murmelte ich, als Schritte hinter mir erklangen. „Sie war schrecklich enttäuscht."
„Wann ist sie das nicht?", antwortete Eleanor Conteville und setzte sich mir gegenüber. Normalerweise ließ sie darauf eine fadenscheinige Erklärung für ihre Abwesenheit beim Familientreffen folgen – Kopfschmerzen, plötzliche Müdigkeit, manchmal eine Magenverstimmung. In seltenen Fällen gab sie ehrlich zu, keine Lust gehabt zu haben. Als sie heute schwieg, hob ich den Blick von dem Kissen und musterte sie. Unwillkürlich suchte ich nach Anzeichen für weitere Sorgen, neue Falten, die sich über Nacht zu den anderen auf ihrer Stirn und um ihren Mund gesellt hatten. Falls sie existierten, fielen sie mir nicht auf, doch das musste nichts heißen. Sie war ein Meister darin, ihre Gefühle im Zweifelsfall zu verstecken.
Wie um diesen Gedanken zu bestätigen, huschte ein Lächeln über ihre Lippen. In Momenten wie diesen ahnte ich, wie schön sie einst gewesen sein musste. Voller Lebensfreude und ohne die grauen Strähnen in den glänzenden kastanienbraunen Haaren. Wäre ihr Leben nicht nach der Heirat mit Vater beständig bergab gegangen, würde man ihr das Alter vermutlich nicht annähernd ansehen.
„Stimmt etwas nicht?", fragte ich leise.
„Nein. Ich bin nur ein wenig melancholisch, Julie, das ist alles." Sie lächelte erneut, wie um mich zu beruhigen und ergriff meine Hand. Bei ihren nächsten Worten schwankte ihre Stimme kaum merklich. „Wir haben eine Einladung zu einem Festessen erhalten – ist das nicht wundervoll? Roxburgh Castle ist zwar alles andere als in der Nähe, aber wir sollten nicht wählerisch sein."
Ich ließ die andere Hand mit der Sticknadel ebenfalls sinken. Für Geografie konnte ich mich nie erwärmen, und wenn mich jemand nach dem Weg zu einer der Städte oder Burgen in der Nähe fragen würde, müsste ich ihn hilflos an jemand anderen verweisen. Bestenfalls kannte ich die Orte dem Namen nach, scheiterte jedoch schon daran, mich festzulegen, in welcher Himmelsrichtung sie zu finden waren. Roxburgh Castle hörte ich heute erst zum zweiten Mal. „Aber Roxburgh Castle liegt in Schottland, Mutter. Richard meinte zwar, dass es sich in englischer Hand befindet, aber dennoch ... Ist das nicht zu gefährlich?"
„In der Einladung stand, dass wir eine Eskorte für den Hin- und Rückweg erhalten werden. Außerdem sind wir ja nicht die einzigen Gäste." Sie zögerte, ehe sie fortfuhr. „Es soll einer der ersten Schritte für eine friedliche Einigung mit Schottland sein, dementsprechend werden Adlige aus ganz England anwesend sein. Wir werden nie wieder eine so gute Gelegenheit erhalten, einen Ehemann für dich zu finden."
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Das Schloss im Nebel
Historical FictionSchottland, 1314 Das Land befindet sich seit achtzehn Jahren im Unabhängigkeitskrieg mit England. Nach wechselnden militärischen Erfolgen beider Seiten versucht Edward II sich die Unterstützung einiger Schotten auf dem friedlichen Weg zu sichern. Im...
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