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3. Kapitel

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Als wir am Abend unsere Plätze an einer von fünf langen Festtafeln eingenommen hatten, war ich nur wesentlich besser gelaunt als jene Männer, die ich vor wenigen Stunden auf dem Burghof gesehen hatte. Es wäre mir lieber gewesen, nach der ungewohnt langen Reise einen Tag – oder zumindest einen halben – Zeit zu haben, in dem Bett unseres Gästezimmers zu liegen, die Augen zu schließen und solange nichts zu tun, bis ich meinte, meinen Körper nicht mehr zu spüren. Die Schuld daran, dass mir ebendies nicht vergönnt war, schob ich kurzerhand auf unsere Eskorte. Wären sie einen Tag früher bei uns gewesen, hätte ich sogar die Gelegenheit gehabt, die Burg auf eigene Faust zu erkunden. Alles, was ich bisher gesehen hatte, waren der Eingangsbereich, einige Treppen, das Zimmer, das man uns für diese Nacht zur Verfügung gestellt hatte, und die Halle, in der wir uns aufhielten.

Zugeben, der Anblick letzterer hatte gereicht, um meine missmutigen Gedanken für einige Augenblicke zu vertreiben. Es war zu erwarten gewesen, dass sie größer sein würde als alles, was ich bisher in dieser Hinsicht kannte, doch ihre tatsächlichen Ausmaße hatten mir den Atem geraubt. Neben den fünf längs gestellten Tischreihen bot sie Platz für eine sechs Stufen hohe Erhebung mit einer weiteren Tafel darauf. Ich musste nicht die Gesichter und Namen jedes einzelnen Anwesenden kennen, um zu wissen, dass die Männer an diesem Tisch der Dreh- und Angelpunkt des heutigen Abends waren. Wir saßen zu weit entfernt, um Details erkennen zu können, doch allein ihre gesonderte Position, von der aus sie die gesamte Halle überblicken konnten, genügte. Mit einem von denen würde Mutter mich zumindest nicht verkuppeln können.

Ich ließ den Blick kurz über den Tisch vor mir schweifen, ehe ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Rest der Halle widmete. Es war ein Festessen, ohne Zweifel, und der Gastgeber hatte weder Mühen noch Kosten gescheut: Die einzelnen Tische bogen sich bedenklich unter den Massen von gebratenen Vögeln aller Größen, ganzen Spanferkeln, Wildschwein- und Hirschbraten, Beilagen aus Kohl, Karotten und anderem Gemüse, vier verschiedenen Brotsorten, Suppen deren Inhalt sich nicht mehr identifizieren ließ, und allem, was das Herz der Gäste noch begehren könnte. Die Luft war von einem intensiven Geruch erfüllt, bei dem mir das Wasser im Mund zusammenlief, obwohl ich nicht einmal sagen konnte, wonach genau es roch. Essen, wäre meine schlichte Antwort gewesen, wenn mich jemand danach gefragt hätte.

Dennoch brachte ich es nicht über mich, mehr als ein paar Happen zu essen. Der mit Kräutern garnierte Fisch auf der Platte vor mir starrte mich vorwurfsvoll aus seinem toten Auge an, bis ich angeekelt den Blick abwandte. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich einen kompletten Fisch auseinandernehmen würde, aber irgendetwas hielt mich heute davon ab. Ein unbestimmtes Gefühl, dessen Ursache ich allenfalls erahnen konnte, hatte sich beim Betreten der Halle zu einem schmerzhaften Knoten in meinem Magen zusammengezogen und ließ sich auch von allen Beschwichtigungen meinerseits nicht vertreiben. Ich konnte mir einreden, was ich wollte, ein Teil von mir schien davon überzeugt zu sein, heute Abend würde etwas Schreckliches geschehen.

Zum wiederholten Mal starrte ich einen der goldenen Wandteppiche auf der anderen Seite an und erinnerte mich selbst daran, wie lächerlich ich mich benahm. Soweit ich es mitbekommen hatte, musste jeder außer den wachhabenden Soldaten am Halleneingang jegliche Waffen abgeben und mit den fast stumpfen Essmessern würde niemand einen Aufstand anzetteln. Woher also kam diese Angst?

Als der Mann gegenüber von mir so laut über einen Witz seines Sitznachbarn lachte, dass winzige Essensreste durch die Luft flogen und Bratensoße in seinen Bart rann, rutsche ich unauffällig ein Stück nach links. Das wird es sein, entschied ich mit einem weiteren Blick auf den Mann. Ich habe Angst davor, wen ich am Ende dieses Fests womöglich meinen Verlobten nennen muss. Die Kandidaten, die ich bisher gesehen hatte, hatten ihr Bestes getan, um meinen Vorsatz schwanken zu lassen. Wenn ich es genau bedachte, könnte ich auch Nonne werden, um meinen Eltern nicht mehr zur Last zu fallen. Obwohl es bisher nur wenige Frauenklöster in England gab, und ich die Letzte war, die sich für ein derart strenges und gottesfürchtiges Leben eignete, beruhigte mich dieser Gedanke. Von den Namen, die Mutter mir beständig aufzählte und dabei mal in diese mal in jene Richtung nickte, war sowieso keiner bei mir hängen geblieben. Nach den ersten zwanzig hatte ich aufgehört, ihr ernsthaft zuzuhören und beschränkte mich seitdem darauf, gelegentlich ein zustimmendes Geräusch von mir zu geben. Selbiges galt für die ältere Frau auf meiner anderen Seite – mit dem Unterschied, dass sie bemerkt hatte, wie wenig Aufmerksamkeit ich ihr entgegenbrachte, und sich daraufhin jemand anderem zugewandt hatte.

Das Schloss im NebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt