Es dauerte länger als erwartet, die große Halle wiederzufinden. Obwohl ich mir sicher war, denselben Weg gegangen zu sein, wie mit William am Abend, hatte ich offenbar die richtige Abzweigung verpasst. Bei Tageslicht wirkten die Gänge und Treppen länger als bei Kerzenschein. Ich hatte gehofft, jemandem zu begegnen, der mir die Richtung weisen konnte, doch während ich unschlüssig vor der dritten Abzweigung stand, schienen sich die übrigen Menschen in Luft aufgelöst zu haben. Aus der Ferne drangen immer wieder Stimmen zu mir, aber so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte ihren Ursprung nicht ausmachen. Ganz gleich, in welche Richtung ich mich drehte, sie wanderten mit mir, statt ihren Herkunftsort beizubehalten. Meine Erwartung, an jeder Ecke einen Soldaten zu treffen, stellte sich ebenfalls als falsch heraus. Entweder gingen sie nicht davon aus, dass eine derart aufmerksame Bewachung notwendig war, oder ich war tatsächlich die Einzige, die diesen Teil der Burg je betreten hatte.
Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.
Als ich zum zweiten Mal in einer Sackgasse landete, konnte ich mich nur mühsam davon abhalten, gegen die weiß gestrichene Wand zu treten. War meine Erinnerung dermaßen schlecht, dass ich nicht einmal den einfachsten Weg zurückfand oder hatte ich nur den katastrophalsten Orientierungssinn der Welt? Beide Varianten gefielen mir nicht und die dritte – dass sich die Wände über Nacht verschoben hatten – noch viel weniger.
Ich holte tief Luft und versuchte, vor meinem geistigen Auge eine Karte entstehen zu lassen. Wir waren von der Halle aus beständig geradeaus gegangen, dann nach rechts auf die erste Treppe abgebogen, hatten im Stockwerk darüber den linken Gang gewählt und waren dann schon an der Tür gewesen. Es musste hier sein. Stirnrunzelnd starrte ich weiter die Wand vor mir an und beschwor sie gedanklich, eine Tür freizugeben. Sie konnte doch nicht mit ihr verschmolzen sein.
„Himmel, warum bin ich da nicht gleich drauf gekommen?", sagte ich und schüttelte über mich selbst den Kopf. Natürlich konnte ich die Tür nicht ohne Weiteres finden – wir hatten die Halle durch einen der Dienstboteneingänge verlassen. Der normale Eingang befand sich mehrere Gänge rechts von mir und ich hatte mich gar nicht verirrt, sondern nur nach der falschen Tür gesucht.
Von neuer Zuversicht erfüllt, ging ich ein paar Schritte zurück und bog bei der ersten Gelegenheit ab. Diesmal erblickte ich endlich andere Menschen, die ähnlich zielstrebig unterwegs zu sein schienen. Und tatsächlich: keine Minute später stand ich im Schatten einer der deckenhohen Flügeltüren und musterte die Halle. William hatte recht gehabt; es gab Essen, wenn auch nur die Reste von gestern statt eines normalen Frühstücks. Daran störte sich jedoch keiner der Anwesenden – es wurde diskutiert, gelacht und hier und da Beleidigungen ausgetauscht. Mir fiel auf, dass die Halle merklich leerer war als am Abend. Über die Hälfte der Gäste musste schon abgereist sein oder sich derzeit an einem anderen Ort aufhalten. Mutter entdeckte ich zu meiner Enttäuschung nicht.
„Verzeihung", wandte ich mich an einen der Soldaten, der ein Stück links von mir stand und gemeinsam mit fünf weiteren die Halle im Auge behielt. „Ich bin auf der Suche nach meiner Mutter, der Countesse of Conteville. Wisst Ihr, wo ich sie finden könnte?"
Er warf mir einen winzigen Blick zu und schüttelte den Kopf. „Bedaure."
„Was? Dass Ihr es nicht wisst oder dass Ihr es mir nicht sagt?" Von plötzlichem Ärger erfüllt, trat ich einen Schritt näher auf ihn zu. Es mochte stimmen, dass er es nicht wusste, doch in jedem Fall musste er eine ungefähre Ahnung haben, wo sich die übrigen englischen Gäste aufhielten. Dass man mir nicht einmal das mitteilen wollte, grenzte an Unverschämtheit. Und dass er auf meine zweite Frage keine Reaktion zeigte, war sogar noch schlimmer.
„Herrgott, Julie! Was glaubt Ihr eigentlich, was Ihr da tut?", grollte jemand neben mir und zog mich gleichzeitig von den Soldaten weg. Was genau er damit verhinderte, hätte ich nicht sagen können.
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Das Schloss im Nebel
Historical FictionSchottland, 1314 Das Land befindet sich seit achtzehn Jahren im Unabhängigkeitskrieg mit England. Nach wechselnden militärischen Erfolgen beider Seiten versucht Edward II sich die Unterstützung einiger Schotten auf dem friedlichen Weg zu sichern. Im...
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