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"Bist du nicht deshalb gekommen?", fragt mein Bruder verwirrt und runzelt die Stirn.

"Nein, ich ... was meinst du damit? Ein Fünfter ist verschwunden? Noch ein Mann, der einfach entführt wurde? Aber wann?"

"Letzte Nacht."

Das Blut in meinen Adern gefeiert.

"Ist ein Zeitraum bekannt?", frage ich leise, weil ich wirklich Angst vor der Antwort habe.

"Oh, ziemlich spät. Irgendwann nach 3 Uhr in der Früh. Der Täter hat den jungen Mann in einem Club verführt und ist dann mit ihm verschwunden. So ähnlich wie die letzten Male also. Seitdem fehlt von ihm jede Spur."

Ungläubig sehe ich aus dem Panoramadach des Wohnzimmers.

"Vielleicht ist er von dem One Night Stand nur noch nicht zurück?"

"Das ist sehr unwahrscheinlich."

Ich balle die Hände zu Fäusten.

"In dem Club, in dem das passiert ist, hat da niemand den Täter erkannt?"

"Das ist deine Aufgabe. Ich habe gerade beim Polizeiamt die Namen und Adressen der Zeugen ausfindig gemacht und wollte sie dir zumailen. Aber jetzt bist du ja hier."

Ich hole tief Luft und fahre mir gestresst durch die Haare. Das kann doch alles nicht wahr sein.

"Harry, geht es dir gut? Du bist so blass ..."

Liam legt einen Arm um meine Taille und hebt mein Kinn an.

"Sag mal, weinst du?", fragt er vorsichtig und legt eine Hand an meine Wange.

Ich drehe mich weg. Verdammt.

"Harold, sieh mich an.", knurrt Liam.

"Es geht mir gut. Ich hatte nur nicht genug Schlaf."

"Ist dir dieser Fall zu viel? Ich verstehe das. Du bist noch nicht bereit für so viel auf einmal. Du hast schon zu viel gesehen. Vielleicht solltest du doch eine Ausbildung anfangen, ein normales Leben führen."

"Schwachsinn."

Liam seufzt und kommt um mich herum. Ich sehe in seine Augen.

"Da ist noch mehr, hm?"

Er zieht mich sanft an sich und streicht über meinen Rücken. Ich lege meine Wange auf seine Schulter und schließe die Augen.

"Wenn Mum und Dad uns jetzt sehen könnten.", murmelt er und ich muss leise lachen. "Wenn du irgendwas brauchst. Ich bin für sich da."

Ich ziehe mich zurück und richte meine Locken.

"Jetzt übertreib mal nicht. Das hier hat nie stattgefunden."

Liam lacht und legt eine Hand auf meine Schulter.

"Natürlich nicht, Bruderherz."

Ein fünfter, verschwundener Mann. Ich gehe die Akten durch und schreibe mir auf, in welcher Reihenfolge ich die Zeugen morgen abklappern werde. Dann sehe ich ein Bild von dem Vermissten. Braune Haare, grüne Augen, groß ... Ich hole tief Luft und schließe die Akte.

Am nächsten Tag sitze ich dann auf der Couch von Mrs. Turner. Sie bietet mir allerhand Gebäck und Tee an, aber ich versichere ihr, dass ich nur über das Verschwinden ihres Sohnes reden möchte, da ich noch fünf Zeugen vor mir habe.

"Daniel ist ein sehr lebensfreudiger Mensch. Er würde niemals mit jemandem nach Hause gehen. Und schon gar nicht ... mit einem Mann. Er ist seit zwei Monaten verheiratet."

Ich hebe überrascht beide Augenbrauen.

"Oh."

Das Gespräch bestätigt nur die Wage Vermutung, dass Daniel entführt wurde. Mehr Sinnvolles kann ich nicht mitnehmen. Ich verlasse sie mit dem Versprechen ihren Sohn zu ihr zurück zu bringen. Auch wenn ich genau weiß, dass man so etwas einfach nicht versprechen kann. Doch es ist das einzige, was dieser Mutter bleibt. Die Hoffnung.

Der erste Zeuge ist ein 18-jähriger Junge. Seine Eltern sind zunächst skeptisch, aber als ich ihnen meine Papiere und Ausweise vorlege, lassen sie mich mit ihm reden.

"Daniel ist ein echt netter Typ. Ich kenne ihn, weil ... Naja, einfach jeder kennt ihn. Und jeder mag ihn."

"Dann glaubst du ist der Entführer niemand, den er kennt?"

"Nein, das kann nicht sein. Ich meine, so gut kenne ich ihn nicht. Aber es wäre echt komisch."

Ich nicke und leere meinen Tee, den die Mutter uns gemacht hast.

"Hier ist meine Karte. Wenn dir noch irgendwas einfällt, sag mir bescheid."

Die zweite Zeugin entpuppt sich als die frische Ehefrau des Opfers. Ich atme tief durch und nehme sie in den Arm. Sie wohnt mit ihm alleine in einem kleinen Häuschen, das er gerade abbezahlt hat.

"Sie werden ihn finden, hab ich recht?", schluchzt sie und krallt sich in meinen Mantel.

"Ich tue was ich kann.".

Die anderen drei Zeugen sind auch nur Bekannte oder Freunde. Aber sie können sich das Verschwinden ebensowenig erklären. Doch der Letzte hat den Täter kurz gesehen.

"Er war nicht sehr groß. Er trug eine graue Wollmütze, was mir schon von Anfang an merkwürdig vor kam. Er hat braune Haare."

Ich hole tief Luft.

"Viel kannst du doch nicht erkannt haben, es war dunkel in der Discothek.", hinterfrage ich seine Aussage in der Hoffnung, er hat wirklich nicht mehr gesehen.

"Nach zwei Uhr in der Früh werden die Lichter etwas heller gedreht, um uns Jugendliche daran zu erinnern, dass wir bald Heim müssen.", erklärt er lachend und sieht auf seine Hände. Ich nicke langsam. " Er hat mich einmal kurz angesehen. Das war echt gruselig. Als hätte er es auf mich abgesehen. Seine Augen haben so etwas ... geheimnisvolles."

Nervös presse ich die Lippen aufeinander.

"Gut, ich danke dir. Das ist meine Karte, melde dich, wenn dir noch was einfällt."

Eilig gehe zur Haustür und rufe mir ein Taxi. Ich muss zu Louis.

Er
Bist du zu Hause?

Seine Antwort kommt etwas zu schnell.

Louis T.
Bin gleich da.

Ich beiße mir auf die Lippe und fahre mit durch die Locken. Bei dem Gedanken gleich auf ihn zu treffen werde ich furchtbar nervös. Vor allem der Grund macht mir zu schaffen. Aber ich bin mir sicher er ahnt es schon. Wie er wohl reagieren wird, wenn ich ihn darauf anspreche?

Ich betätige die Klingel am Eingangstor mit dem Gewissen, dass ich hier wahrscheinlich nie wieder rauskomme.

John geleitet mich ins Haus und wirft mir einen letzten, vielsagenden Blick zu, als er das Haus verlässt. Ich sehe ihm stirnrunzelnd nach. Warum geht er denn schon?

"Ich wusste, du kommst zu mir zurück."

Ich fahre herum und treffe Louis' blaue Augen in der Tür zum Wohnbereich. Er sieht atemberaubend gut aus. Verdammt. Was mache ich hier?!

The Cold Case ➳ L.S. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt