Der Gast auf Zeit?

11 1 0
                                    

Und dann sprudelte es einfach so aus ihr heraus.

Die warme Decke, der Kaba und die Gewissheit, heute Nacht nicht im Schuppen schlafen zu müssen, lösten Lunas Zunge. Professor Krombach hatte Mühe, der ganzen Geschichte zu folgen. Da ging es hin und her zwischen Vergangenem und aktuellen Erlebnissen. Der Vater, der nicht mehr bei der Familie wohnte, kam ins Spiel. Die mit der Erziehung ihrer impulsiven Töchter überforderte Mutter, der wohl häufiger die Hand ausrutschte und die immer wieder zu spürende Sehnsucht nach Ordnung und Geborgenheit, die Luna gerne gehabt hätte und haben würde. Trotz aller Tränen schien Luna nicht bereit, zurückzugehen. Und das musste auch einen Grund haben. Immerhin wurde aus ihrer Erzählung deutlich, dass sie sehr unter der häuslichen Gewalt litt. Da musste einiges vorgekommen sein, was so nicht in Ordnung war. Auch wenn vielleicht manches in der Erzählung eher Lunas persönliches Empfinden war, so stimmten ihn die deutlichen Hinweise auf Schläge, Essensentzug und Einsperren wegen doch eher kleinerer Vergehen sehr nachdenklich. Professor Krombach wusste auch genau, was da eigentlich als einzige Lösung in Frage kam. Aber diese Lösung war weder für ihn, noch für Luna akzeptabel.

Sein Herz sagte laut und deutlich: Nimm sie bei dir auf und gib ihr ein gutes Zuhause. Aber sein Verstand wusste, dass es da eigentlich klare Regeln gab. Wenn er diesen folgen würde konnte er aber eigentlich sicher sein, dass Luna schnell wieder verschwunden war. Und diesmal wirklich! Aber für heute Nacht brauchte zum Glück keine Entscheidung mehr getroffen zu werden. Professor Krombach richtete das Gästebett und Luna strahlte, als er sie noch zudeckte, bevor sie dann schnell die Augen schloss und einschlief. Und so schnell Luna jetzt einschlief, so schwer war das nun immer noch für Professor Krombach. Er wusste genau, dass morgen die Sache weiter durchdacht werden musste. Aber schließlich konnte er sich davon lösen und mit der Erinnerung an Lunas zufriedenem Lächeln in ihrem Gästebett fand er auch seinen Schlaf.

"Du bist aber gestern noch lange auf gewesen," meinte Frau Krombach. "Musst du so viel an deine Luna denken?"
Einweihen musste er seine Frau, das war klar. "Ich habe Luna gestern in unserem Schuppen gefunden. Hier hat sie die letzten Nächte geschlafen. Ich habe ihr jetzt das Gästebett gemacht. Sie hat mir viel von ihrem Zuhause erzählt.  Sie wird geschlagen und erhält harte Strafen für kleinere Vergehen. Sie tut mir so leid. Ich kann sie doch nicht zurückschicken?"
"Woher willst du wissen, dass sie die Wahrheit sagt? Sie ist ein schlaues Mädchen und tanzt ihrer Mutter sicher auf der Nase herum."
"Ich weiß, dass es mit ihr sicher nicht einfach ist. Aber schau dir an, wie gut sie bei uns gelernt hat. Sie bereitet mir soviel Freude."
"Ja, weil du ignorierst, wenn sie dich um den Finger wickelt. Ich beobachte das genau. Du nimmst dir sehr viel Zeit für sie. Aber du bist Rentner und kannst die Zeit, die du jetzt für Vorlesungen aufwendest, selbst bestimmen. Eine Mutter hat noch viele andere Dinge zu erledigen. Sie hat mehrere Kinder. Luna ist sehr bestimmend und braucht viel Aufmerksamkeit."

Irgendwo hatte seine Frau natürlich recht. Er wusste genau, dass die doch schönen Nachmittage mit Luna auch immer recht anstrengend waren. Die Zeit und Geduld hatte eine Mutter mit mehreren Kindern, die vielleicht auch noch arbeiten musste, wahrscheinlich nicht. Aber so etwas, das Luna gestern Nacht so ausführlich erzählt hatte, konnte man nicht erfinden. Und außerdem war es seltsam, dass ein 11 jähriges Mädchen einfach so verschwinden konnte, ohne dass die Mutter nach ihr suchte. Das war doch ein deutliches Zeichen dafür, dass hier einiges im Argen war. Trotzdem versprach er seiner Frau, zum Jugendamt zu gehen. Luna konnte dann natürlich bleiben, bis das Jugendamt eine andere Lösung für sie gefunden hatte. Doch er brachte es nicht übers Herz und er hatte Angst, dass Luna wieder verschwinden würde, sollte sie bemerken, dass sie beispielsweise in ein Heim müsste. Nein, das durfte nicht sein.

Luna wirkte sehr zufrieden, als sie aufwachte: Das schöne Gästebett, welches sie bei vielen Besuchen sehnsüchtig betrachtet hatte, die Aussicht auf ein ausgiebiges Frühstück und irgendwie wohl auch die Gewissheit,  dass sie nicht nur eine Nacht bei Professor Krombach bleiben konnte. 

"Ich habe mit meiner Frau gesprochen," sagte Professor Krombach nach dem Frühstück. "Du hast schlimme Dinge erlebt und ich mag dich sehr. Ich kann dich nicht einfach zurückschicken. Da hätte ich ein schlechtes Gewissen. Aber du weißt, dass man eigentlich den Weg über das Jugendamt gehen müsste. Du bist erst 11 Jahre alt. Ich habe Angst, Ärger zu bekommen. Aber ich kann mir auch nicht vorstellen,  dass du jetzt in ein Heim gehen solltest. Was wird deine Mutter tun, wenn du nicht mehr auftauchst? Sie wird doch die Polizei einschalten?"
"Nein, wird sie nicht. Das hat sie noch nie getan. Ich bin schon öfter abgehauen. Das hat sie nicht gekümmert. Sie denkt dann, ich wäre bei meinem Papa. Und zu dem hat sie keinen Kontakt."
"Ich kann mir das gar nicht vorstellen, dass sich eine Mutter so wenig um ihr Kind sorgt. Außerdem willst du ja diesmal gar nicht zurück. Das kann doch nicht lange gut gehen."
"Ich habe ihr neulich von dir erzählt. Sie weiß auch, dass wir schon Ausflüge miteinander gemacht haben. Sie sagt, ich bin sehr anstrengend für sie. Sie war immer froh, wenn ich mich ohne sie beschäftigen konnte. Aber ich kann ihr auch einfach sagen, dass ich vorerst mal bei dir bleibe. Beruhigt dich das dann?"

Das war Professor Krombach natürlich sehr recht. Er gab Luna das Telefon und lauschte, wie sie ihre Mutter informierte. Sie erzählte brav alles und ihre Mutter schien das ganz gelassen hinzunehmen. Anscheinend war sie wirklich froh, ihre Tochter eine Weile los zu sein. Professor Krombach hatte keine eigenen Kinder.  Er konnte sich natürlich vorstellen, dass Erziehung eine sehr verantwortungsvolle und anstrengende Aufgabe war. Und er hatte natürlich auch viel über verzweifelte Eltern gelesen, die mit der Erziehung ihrer Kinder nicht zurechtkamen. Schlimmer noch: Eltern, denen ihre Kinder zur Last wurden und die die ständigen Ansprüche, Anfragen und den Betreuungsaufwand nicht leisten wollten.
"Meine Mutter möchte dir einmal pro Woche 50 Euro geben. Sie findet eine Auszeit prima und dankt dir sehr, dass ich bei dir unterkomme. Aber sie möchte wenigstens für die Kosten aufkommen.  Bist du einverstanden?"
Was sollte Professor Krombach da noch sagen? Die Kleine war ihm sehr ans Herz gewachsen und er konnte sich eigentlich nichts schöneres vorstellen, als dass Luna eine Weile bei ihnen wohnte.

Der Professor und das Mädchen ..... Nein!   Das Mädchen und der ProfessorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt