11 Hoffnungen

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Als ich mich am Dienstagnachmittag den zerlöcherten, kieselstein-, und schlaglochübersäten Sandberg hinauf mühte, schlug mir das Herz nicht nur vor Anstrengung bis zum Hals.

Wie sollte es auch anders sein, war ich aufgeregt.

Schon seit gestern konnte ich an nichts anderes mehr denken, als an die Frage, ob sie auch wirklich da sein würde. Dad war zwar nicht sauer, aber er hatte mich schon gefragt, warum ich denn die Zielscheibe nicht erwischte. Dabei war ich normalerweise nicht schlecht. Treffen konnte ich an diesem Montag aber trotzdem nicht. Schneewittchen und ihrem roten Erdbeerduft sei Dank.

"Ich hab die Matheklausur vergeigt." Das erzählte ich meinem Vater, wäre der Grund, warum ich so unkonzentriert war. Es stimmte zwar, doch verschwendete ich nicht einen Gedanken an die 'fast' fünf, die ich kassiert hatte. Viel mehr tauchte ständig ihr Gesicht in meinen Gedanken auf. Ihre Stimme in meinen Ohren, die der meines Vaters so unähnlich war. Und obwohl, das Knurren seines Unmuts, mich nicht vollkommen kalt ließ, blieb mir genug Raum, um auch weiterhin nur an sie zu denken.

Zu meinem Glück, hatte mein Vater nicht darauf bestanden, dass ich die nächsten Tage zu Hause blieb um zu lernen, was in meinem Fall vermutlich ohnehin vergebliche Mühe gewesen wäre. Und tödlich obendrein!

Wie in Gottes Namen hätte ich lernen sollen, wenn mein Kopf bereits am Überlaufen war?

Selbst die Fahrt in den Park, war für mich mit einigen Risiken verbunden. Rote Ampeln über sah ich. Fußgänger überfuhr ich; also beinahe zumindest! Und im Stau stehende Autos überholte ich. Letzteres war zwar nicht gerade schwierig, anders als dieser Berg, den ich mich hinauf kämpfte, aber andernfalls hätten sie für mich schon ein beachtliches Risiko darstellen können.

Ich lauschte schon seit einer gefühlten Ewigkeit auf ihre Stimme, dabei war mir klar, dass ich noch viel zu weit von ihrem Platz entfernt war. Versuchen tat ich es trotzdem. Vergeblich wie ich eingestehen musste.

Doch so langsam, sollte ich sie eigentlich hören können. Also, wenn sie denn da wäre und sie singen würde.

War sie aber nicht, wie ich gute siebeneinhalb Minuten Später feststellte. Warum ich für die zweihundert Meter so lange gebraucht hatte? Kann ich euch sagen, auch wenn es echt peinlich ist!

Also zuerst einmal, wollte ich ihr nicht, wild wie eine Dampfloch keuchend, gegenüberstehen. Dann und das war beinahe noch wichtiger! Ich wollte cool sein. Lässig in ihr Versteck schlendern und nicht wie ein liebestolles Nashorn auf sie zu preschen. Tja. Und zu guter Letzt, hatte ich mein Aussehen auch noch im Brunnen überprüft. Meine zerzausten Haare hatte ich mit dem Brunnenwasser geglättet, bevor ich sie wieder zerwühlt hatte. Diesmal verwegen gestylt und nicht verschwitzt zerzaust.

Und die ganze Zeit hatte ich angestrengt gelauscht. Hatte mir sogar eingebildet, sie zu hören, doch blieb es leider bei der Einbildung. Denn, als ich endlich, lässig, mit frisch zerwühlten Haaren und absolut nicht abgekämpft, komplett aufgewühlt hingegen schon, in ihr Brennnesselnest getreten war, war ich allein.

Tiefste Enttäuschung breitete sich in mir aus, die ich mit der Ungeduld eines Paparazzo auf Promijagd, also absolut aufgescheucht, mit nach außen hin trügerischer Ruhe, verdrängte.

Sie wird schon kommen. Redete ich mir ein. Das redete ich mir auch vier Stunden später noch ein, als es schon langsam dunkel wurde. Sicher kommt sie jeden Augenblick. Sie würde mir mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen entgegenkommen und mich mit einem ihrer wundervollen Lieder, für die Zeit, die ich gewartet hatte, entschädigen. Ganz sicher sogar! Ich ging sogar noch einen Schritt weiter und wagte davon zu träumen, dass sie mir zur Entschädigung einen Kuss auf die Wange geben würde.

Ich fasse mich mal kurz und bestätige euch in eurer Annahme, dass all diese Gedanken und Träume, schlichte Einbildung blieben.

Sie kam natürlich nicht. Und küssen tat sie mich schon mal gar nicht. Wie auch, wo lediglich die Erinnerung an sie, mich mit ihrer Anwesenheit beehrte und mir ihre Abwesenheit schmerzlich vor Augen hielt. Von ihr oder auch ihrem ebenholzschwarzem Haar fehlte hingegen jede Spur. Weshalb ich mich im letzten Licht der Abendsonne auf den Heimweg machte.

Ich war enttäuscht. Und das nicht gerade wenig. Ich hatte mir tatsächlich eingebildet, dass es ihr am Sonntag so gut gefallen hatte wie mir. Doch wie es schien, hatte ich mich da wohl geirrt. Sie hatte wohl nur mit mir dort im Halbschatten unter dem Baum gelegen, weil sie gerade nichts anderes zu tun gehabt hatte. Oder weil sie sich, mit mir hatte besser langweilen können, als allein.

Ich wusste es nicht. Konnte meinen Unausgesprochenen Fragen aber auch keine Antwort geben, weshalb ich beinahe froh war, als Kessy mich aus meinen grüblerischen Gedanken riss.

"Blue?", säuselte sie mit butterweicher Engelsstimme, die mir klar machte, was sie wollte. Ich legte das Plektron, das ich nachdenklich durch die Finger hatte wandern lassen, auf meinen Nachtschrank und klopfte neben mich aufs Bett.

"Was denn, Maus?", fragte ich nach, nachdem sie sich neben mich gesetzt hatte. Ihren lebensgroßen Plüschpapagei im Arm.

"Bringst du mich heute ins Bett?"

"Ist Mama noch immer auf der Arbeit?" Kessy nickte traurig, allerdings hellte sich ihr Gesicht auf, als ich ein ergebenes Seufzen von mir gab. Ihre Ablenkung kam mir gerade Recht. So konnte ich dieser elendigen Gedankenschleife wenigstens für ein paar Minuten entkommen.

Den kleinen Quälgeist, in seinem kanariengelben Pyjama samt Blauara, auf dem Arm, ging ich in ihr Zimmer hinüber und legte sie in ihr Bett. Allerding sprang sie gleich wieder raus und zerrt aus ihrem Bücherregal ihr Lieblingsbuch hervor. Erst dann legte sie sich in ihr Bett. Den Papagei im Arm rückte sie ganz an die Wand und kuschelte sich dann an meine Seite, als ich mich neben sie gelegt hatte.

"Müssen wir das Buch echt noch mal angucken?", fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte. Sie kam auch gleich, wobei Kessy strahlte.

"Ja. Rio ist so toll!"

"Na schön. Also nochmal. Zum wievielten Male? Zweitausend?", grummelte ich, nicht wirklich verärgert, was meine Schwester zum Kichern brachte, bevor sie das Buch aufschlug und in meine Hand drückte.

"Weit draußen und tief im Jungel versteckt, erblickte einst ein kleiner Papagei das Licht der Welt", begann Kessy das Buch vorzulesen. Sie kannte es schon auswendig, weshalb ich eigentlich nicht viel machen musste. Ich blätterte hauptsächlich die Seiten um und half ihr hin und wieder aus, wenn sie den Faden verlor, was, umso weiter sich das Buch dem Ende neigte immer häufiger passierte. Es lag nicht daran, dass sie den Taxt nicht wusste, sondern, daran, dass ihr immer wieder die Augen zufielen. Und so übernahm ich schließlich den Schluss, wo sie mich dann trotzdem dabei ertappte, dass ich eine Seite überspringen wollte.

"Du hast das mit dem bösen Kakadu weggelassen Blue", gähnte sie mit geschlossenen Augen und rutschte etwas weiter unter ihre Decke, weshalb ich die Seiten wieder zurückblätterte und erneut die Stelle las.

Ich klappte gerade das Buch zu, als meine Mom den Kopf zur Tür herein steckte.

Lächelnd kam sie zu uns ans Bett, gab mir einen Kuss auf die Stirn und flüsterte mir ein: "Danke" zu, bevor sie meinen Platz einnahm.

Kessy bekam nicht mehr viel mit. Sie flog bereits mit Blue, Juwel, Raffael, Pedro und Nico durch die Lüfte Rios und erlebte fantastische Abenteuer. Zumindest ging ich mal davon aus, das sie fantastisch waren, so selig, wie vor sich hin lächelte.

Ich hingegen verdrückte mich wieder in mein Zimmer, wo ich mich noch eine Weile damit beschäftigte die Bilder, die ich heute von allem Möglichen gemacht hatte auf meinen Rechner zu laden.

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1215 Worte
08.09.17

✔Unter dem RegenbogenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt