12 Erwartungen

94 15 11
                                    

Der Mittwoch dämmerte, wie jeder andere Tag auch, mit wolkenlosem Himmel herauf, dabei hätte es für mich keinen Unterschied gemacht, wenn es heftig geschüttet hätte. Tat es aber nicht, und so musste ich mich und auch Kessy, dessen Laune widerlich gut war, die Straße entlang zum Kindergarten schleppen.

Mom hatte keine Zeit sie zu bringen. Sie war schon in aller Herrgottsfrühe aus dem Haus verschwunden und auch unser Vater wurde zu einem dringenden, was auch immer, in die Firma gerufen.

Und so schlurfte ich, Kessys blauen Kita Rucksack auf der Schulter; dass Papageien drauf waren muss ich sicher nicht extra erwähnen, meinen Drahtesel bei Fuß, mit ihr den Fußweg entlang.

Immer wieder blieb sie stehen und pflückte Gras, sammelte irgendwelchen Müll von der Straße auf oder schaute einer Schnecke beim Kriechen zu, während ich stumpf weiter ging.

"Kessy komm jetzt!", rief ich ihr schon zum tausendsten Male zu, blieb aber nicht stehen, "Sonst komm ich zu spät zur Schule!"

Also nicht, das mich das jetzt gestört hätte, aber ich konnte nicht ständig meine Verspätungen auf meine Schwester schieben. Und da ich das erst gestern getan hatte, würde das heute echt scheiße kommen!

"Kessy!", brummte ich genervt und blieb schließlich doch stehen. Sie hockte auf dem Boden und starrte ganz fasziniert auf einen Punkt auf der Erde.

"Guck mal", flüsterte sie, als ich zu ihr zurückkehrte, um sie an die Hand zu nehmen. Ich fragte mich zwar, warum sie flüsterte, die Raupe, auf die sie deutete, würde wohl kaum davon fliegen, aber gut.

"Ja. Toll. Eine Raupe. Und jetzt komm!" Ich griff nach ihrer Hand und wollte sie mitziehen, doch entwand sie sich mir. Zischend hielt sie sich einen Finger an die Lippen und sah mich tadelnd an.

"Nicht so laut. Sonst bekommt sie Angst."

"Kessy", sagte ich, "Raupen können nicht hören. Und sicher haben sie auch keine Angst. Also komm jetzt, wir müssen jetzt echt los."

"Aber wenn jetzt ein Vogel kommt. Oder jemand auf sie drauf tritt. Wir können doch nicht...", weigerte sie sich auch weiterhin mitzukommen, weshalb ich sie unterbrach.

"Doch Kessy. Wir können und wir werden. Komm jetzt!"

Dumm nur, dass meine kleine, liebreizende Schwester genau wusste, wie ich tickte. Schmollend schob sie die Unterlippe vor, fasste nach meiner Hand, schniefte herzerweichend und sah dann mit tränenfeuchten Augen zu mir auf.

"Ich will nicht, dass ihr was passiert."

Ich seufzte erschlagen und hätte mir gerne übers Gesicht gerieben, doch leider hatte ich keine Hand mehr frei, und so pflichtete ich ihr mitfühlend bei.

"Ich doch auch nicht, aber wir müssen wirklich weiter."

"Können wir sie nicht mitnehmen?"

Ich wollte schon wiedersprechen, doch wog ich schnell meine Möglichkeiten ab. Wenn ich Kessy plus Raupe dabei hatte, war Kessy glücklich. Ein Zustand, der nicht zu unterschätzen war. wenn ich nun die Raupe zurückließ, hätten zwei Szenarien eintreten können. Die erste: Sie heulte, den Rest des Weges. Die Zweite: Sie heulte, schrie und trampelte mit den Füßen. Und ich war mir sicher, dass wir dann für die letzten zwanzig Meter noch Stunden brauchen würden. An die Dritte und unwahrscheinlichste Möglichkeit dachte ich gar nicht erst. Ich meine, wie hoch war die Chance, dass sie klaglos mit mir mitkommen würde? Richtig! Sie lag bei null, weshalb ich schließlich nickte.

"Also gut. Nimm dir da ein Blatt und pack das Viech ein."

Sofort strahlte Kessy und pflückte von einem kleinen Busch ein Blatt, auf das sie die Raupe setzte. Dann hob ich sie auf den Sattel meines Rades und schob sie. Da sie nämlich nur noch auf das Tier in ihrer Hand starrte, kam sie kaum mehr vorwärts. Doch jetzt ging es recht schnell.

✔Unter dem RegenbogenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt