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Am nächsten Morgen riss mein Wecker mich aus meinem tiefen Schlaf. Erschöpft rieb ich meine Augen. Es war der Montag vor den Osterferien und somit der erste Tag von Sebastians Motto-Woche. Ich hatte ihn gestern immer wieder ausgefragt, was denn die Themen waren, doch er hatte nichts verraten. Es wäre eine Überraschung.

Nachdem ich mich fertiggemacht hatte und einen Jogurt mit Kiwi und Müsli gegessen hatte, machte ich mich viel früher als sonst auf zur Schule. Ich wollte einfach unbedingt wissen, was die Abiturienten sich dieses Jahr ausgedacht hatten.
Zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn betrat ich den Schulhof. Mein Weg führte mich direkt zu einem der beiden Eingänge. Dort standen zwei Jungen mit Ärztekitteln an. Als ich auf sie zu ging, sprach der eine: «Hey, du bist doch der Typ, der was mit Sebastian am laufen hat?» Diese Aussage brachte mich vollkommen aus dem Konzept. Ungefähr so musste wahrscheinlich auch mein Gesicht ausgesehen haben, denn der andere Junge fing an zu lachen: «Wenn du nicht willst, dass man was davon weiß, solltest du dich nicht halb knutschend in der Öffentlichkeit zeigen.» «Wann hab' ich mich den ‹Halb Knutschend› in der Öffentlichkeit gezeigt? Soweit ich weiß, habe wir noch nicht mal Händchen gehalten oder ähnliches.» Der erste Junge kramte in seiner Tasche herum, zog sein Handy heraus und tippte irgendwas darauf rum. Dann gab er es mir. Auf dem Display war Google geöffnet. «Such mal einfach nach dir», forderte mich der Junge auf. Ich tat wie mir geheißen und sah mir die Suchergebnisse an. Die ersten Beiträge waren von Seiten wie der Bild und Bravo. Auf die zweit genannte tippte ich. ‹Mädchen-Schwarm Felix Hardy Schwul?› hieß es als Überschrift. Darunter war ein Bild. Es zeigte mich und Sebastian in der Halbzeit-Pause von dem Spiel vorletzte Woche. Seine Hand lag an meiner Wange und wir sahen uns genau in die Augen. Meine Kinnlade war, während ich das Bild ansah, immer weiter nach unten gesunken. Dann las ich den Text, der unter dem Foto stand.

Am Mittwoch während des Spiels der B-Jugend Mannschaften des 1. FC Köln und dem BVB spielte sich das Szenario, das auf dem Bild zu sehen ist, ab. Der Star auf dem Feld, Felix Hardy, tauscht mit einem anderen Jungen Zärtlichkeiten aus. Der Junge hatte Hardy die Worte »Das wäre deine Chance gewesen» hinter dem Spieler hergerufen. Diese waren wohl eine Anspielung auf einen Kuss gewesen. Als er darauf angesprochen wurde, antwortete er nur, dass sein Privatleben niemanden etwas anginge. Für uns ist es allerdings ziemlich klar. Die Blicke, die die beiden ausgetauscht haben, waren einfach zu offensichtlich. Wir wünschen dem jungen Paar alles Gute! Und an alle Mädchen, die Hardy gerne selber als ihren Freund vorgestellt hätten: Andere Mütter haben auch hübsche Söhne.

Nachdem ich den Text gelesen hatte, sah ich wieder zu den Beiden in Arztkitteln und reichte dem einen sein Handy. Der andere wollte noch etwas sagen, doch ich unterbrach ihn: «Wo ist er?» «Ich glaube in der Turnhalle, aber ich weiß nicht, ob er dich jetzt gerade sehen will.» Ich rannte zur Turnhalle und betätigte die Klingel. Ob er mich gerade sehen wollte oder nicht, war mir gerade egal. Es ging uns beide etwas an und wir mussten wohl oder übel darüber reden. Nach kurzer Zeit öffnete ein Mädchen. «Ähm, was willst du hier?», fragte sie irritiert. «Ich muss zu Sebastian», sprach ich hastig und wollte mich gerade an ihr vorbei drängen, doch sie versperrte mir den Weg. «Du bist sein Freund», stellte sie fest. «Er hat sich vor einer drei viertel Stunde in einem Kloeingesperrt und ist da seitdem nicht mehr rausgekommen. Ich bin mir nicht sicher, ob er dich sehen möchte.» Ich sah sie nur geschockt an. «Wie du schon festgestellt hast ist er mein Freund, ja, und ich möchte zu ihm, weil es irgendwie mit mir zu tun hat und ich das klären möchte.» Sie sah mich immer noch skeptisch an, doch ich drückte mich einfach an ihr vorbei und lief auf das Jungenklo zu. Vor diesem standen schon zwei Jungen und redeten auf die Tür ein. Noch während ich auf sie zu lief, rief ich: «Hey, ist Sebastian da drin?» Einer der Jungen drehte sich zu mir um und musterte mich. Als ich bei ihnen angekommen war, nickte er. «Ich bin Patrick und das ist Simon», stelle sich der Junge, der sich zu mir umgedreht hatte, vor. Der andere murmelte noch etwas zur Kabinentür und drehte sich dann ebenfalls zu mir um. «Jetzt bring das wieder in Ordnung, er braucht dich», forderte mich ebendieser auf. Ich nickte und ging an ihnen vorbei zur Tür. «Wir warten vor der Toilette, damit ihr nicht gestört werdet. Falls er wie bei uns auch gar nicht reagiert, gibt einer von uns deinem Lehrern Bescheid», sagte Patrick noch, bevor er die Tür, die zu den Toiletten führte, schloss. Ich stellte mich vor die Kabinentür und sprach zu meinem Freund. «Hey, Sebastian. Kannst du mich reinlassen?» Er reagierte nicht und ich hörte nur leise Schluchzer aus dem Inneren der Kabine. «Weißt du, vielleicht war es ja auch gut, dass jetzt alle von uns wissen. Dann mussten wir es wenigstens nicht jedem einzeln sagen. Aber glaub mir eins: Ich wollte das auch nicht. Weißt du warum? Ich wollte nie der Schwule sein. Es passte nicht mit meinem Perfektionismus zusammen. Es war eine Macke und ich hasse Macken. Deswegen liebe ich auch dich: Du bist einfach perfekt. Du bist fehlerfrei. Du bist so, wie ich gerne sein würde. Deine einzige ‹Macke› ist, dass du Schwul bist. Und das ist bei dir noch nicht mal ein Fehler. Es macht dich noch perfekter, denn wärst du es nicht, dann könnte ich dich niemals meinen Freund nennen. Und du machst mich vollkommen. Ich will nichtmehr ohne dich leben. Mein Leben hätte wahrscheinlich keinen Sinn mehr, wenn du weg wärst. So wie es auch keinen hatte, als du wirklich nicht da warst oder besser gesagt: Ich dich nicht gesehen habe. Ohne dich wäre ich wieder da, wo ich war, als du mich im Wald gefunden hast. Wirklich Sebastian, ich liebe dich über alles.» Während meiner Rede waren mir immer mehr Tränen aus den Augen gelaufen und meine Stimme war brüchiger geworden, bis sie schließlich fast versagte. Erschöpft und weinende stand ich vor der Tür, als Sebastian diese langsam öffnete. Auch seine Wangen waren von den Tränen ganz nass. Ich schloss meine Arme um seinen Nacken und drückte ihn so fest ich konnte an mich. Er tat es mir gleich. Minuten lang standen wir einfach eng umschlungen da. Irgendwann unterbrach Sebastian die Stille: «Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn ich nicht meine Gründe gehabt hätte, dich nie in der Öffentlichkeit wie meinen Freund zu behandeln. Nur dieses eine Mal habe ich es getan und jetzt das.» Er schluchzte und vergrub seinen Kopf in meinen Haaren. Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür zu den Toiletten und die Stimme Patricks erklang: «Hey, ich gehe... Oh.» Er unterbrach sich selber, doch wir beide beachteten ihn nicht wirklich. Sebastian weinte weiter in meine Haare und ich drückte ihn fest an mich. «Wie hast du das gemacht? Wir standen eine halbe Ewigkeit vor der Tür und haben auf ihn eingeredet und du bist noch nicht mal zehn Minuten hier drin.» Ich konnte Patricks Blick geradezu auf uns spüren. Langsam drückte ich Sebastian leicht von mir weg. Meine Hände wanderten zu seinen Wangen und mit meinen Daumen wischte ich die frischen Tränen, die gerade aus den Augen des Größeren kamen, weg. Wir versanken beide in den Augen des anderen. Nach ein paar Sekunden hielt ich es nicht mehr aus. Mein Kopf näherte sich seinem und kurz bevor unsere Lippen sich berührten, schloss ich meine Augen. Wir lösten uns viel zu schnell, weil der Junge uns immer noch beobachtet und trennten uns schließlich ganz voneinander. Ich wollte schon zu Patrick gehen, doch dann griff Sebastian nach meiner Hand und verschränkte unsere Finger miteinander. Diese Geste ließ ein unbeschreibliches Glücksgefühl durch meinen Körper fahren. Vielleicht hatte die Tatsache, dass jetzt wirklich jeder von uns wusste, doch etwas gutes.

Für immer? | RewilzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt