Sie sah sich selbst im Spiegel an. Die Tränen, die ihr wie Sturzbäche die Wangen heruntertropften versuchte sie nicht einmal wegzuwischen. Sie dachte, dass es wieder bergauf gehen würde, denn so vieles hatte sich normalisiert. Ihre Eltern beschwerten sich wieder über den alten Peter, der nie die Haufen seines Hundes wegmachte und deswegen ihr Vater jetzt schon zum dritten Mal die Scheiße am Fuß hängen hatte. Ihre Freunde feierten wieder Partys am Wochenende und sie kam jedes Mal wieder betrunken nach Hause.
Es fühlte sich beinahe wieder normal an, wäre da nicht dieser Teil in ihr, der verschwunden war. Er war nicht mehr existent, und das brach ihr das Herz.
Der Tod.
Er hatte sie alle getroffen. Unvorbereitet.
Sie hatte schon viel gelitten und geweint, aber diesen unfassbaren Schmerz spürte sie an ihrem Todestag das erste Mal. Sie konnte gar nicht in Worte fassen, was in diesem Moment passiert war und was sie da verspürte.
Sie erinnerte sich daran, ein Rumsen aus dem Nebenzimmer zu hören. Zuerst runzelte sie nur die Stirn, aber nach einiger Zeit wurde misstrauisch. Sie lief aus ihrem Zimmer und öffnete die Tür, hinter der ihre Schwester lebte.
Das Zimmer, dass für sie wie ihr eigenes gewesen war, dort wo sie gemeinsam gelacht und geweint hatten, das Zimmer würde sie nie wieder mit den selben Emotionen betreten können.
Sie öffnete die Tür und ihr blieb beinahe das Herz stehen. Ihr Mund war staubtrocken, als sie einen grellen Schrei ausstieß, der sie von Innen so erschütterte dass sie sofort auf die Knie sank.
Sie schrie.
Sie schrie solange, bis ihre Eltern auftauchten. Ihre Mutter war erstarrt, als sie ihre Tochter, ihr Kind dass sie unter Schmerzen auf die Welt gebracht hatte, an der Decke hängen sah. Sie sank, wie ihre nun einzige lebendige Tochter, auf die Knie und vergrub den Kopf in ihren Händen.
Ihr Vater handelte als Einziger. Mit einem so verstörten Blick, wie sie ihn noch nie gesehen hatte, trat er schnell auf seine Tochter, seinen Liebling, zu und stellte sich auf den vorhin umgekippten Stuhl, um sie loszubinden.
Ihre Augen waren leer. Sie starrten in die Leere als ihr Vater sie im Arm hielt und hin und her wiegte.
Sie saßen bestimmt eine Stunde nur so da, sahen dem toten Mädchen dabei zu wie sie immer mehr verschwand und weinten.
Irgendwann rappelte sich ihre Mutter auf und rief den Notarzt. Keine Ahnung wieso, am liebsten hätte sie gesagt ,"Sie ist tot! Daran werden die Sanitäter auch nichts ändern!", aber sie hielt sich zurück.
Sie konnte sowieso nichts sagen. Es schien, als würde ihr Mund sich nicht öffnen wollen. Aber ehrlich gesagt wollte sie nicht reden. Das einzige, was sie wollte, war ihre Schwester zurück. Nur leider war das nicht möglich. Sie würde für immer fort sein, nie wieder konnten sie diese albernen Gespräche über Zeitreisen führen und nie wieder konnte sie ihre große Schwester um Rat fragen.
Sie blieb eine Woche Zuhause und verließ ihr Zimmer nur um auf die Toilette zu gehen. Das Essen, dass ihre Mutter ihr auf den Nachttisch stellte, aß sie nur selten. Sie hatte schlicht und einfach keinen Hunger, denn ihr wurde alleine schon von dem Gedanken an ihre Leiche kotzübel. Ihre Freunde riefen sie an, aber sie hob nie ab. Besuch wollte sie auch keinen. Wieso auch? Niemand konnte sie je wieder zurückbringen.
Sie war tot.
In der nächsten Woche ging sie wieder in die Schule. Die mitleidigen Blicke gingen ihr schon nach der ersten Minute auf den Sack und sie wünschte sich, unsichtbar zu sein. Nicht mal ihre Freunde schafften es, sie aufzumuntern.
Aber wie auch, wenn sie selber wie am Boden zerstört waren. Sie hatten den selben Freundeskreis, was daran lag dass sie nur ein Jahr auseinander gewesen waren. Ihre Freunde waren auch ihre, zumindestens sagten sie das immer.
Jede Nacht schlief sie weinend ein. Jede Nacht überlegte sie, nach der Rasierklinge zu greifen, aber überlegte es sich immer wieder anders. "Das kann ich ihnen nicht antun.", dachte sie nur und versuchte zu schlafen. Jedes Mal wachte sie schweißgebadet auf, und jedes Mal weinte sie sich in den Schlaf.
Es war grausam.
Dauerhaft hatte sie das Gefühl, dass es nie wieder so werden würde wie es einst gewesen war. Ihr Bauch schmerzte ständig, ihre Augen kannten nur noch die Farbe rot und ihr Hals tat vom Tränen zurückhalten weh.
Sie vermisste sie schrecklich.
Wenn sie an ihr Lachen dachte, ging es ihr für einen Moment besser. Kurz danach brach sie in Tränen aus, weil sie wusste dass sie dieses herzhafte Lachen nie wieder zu hören bekommen würde.
Aber irgendwann, irgendwann wurde es besser. Sie merkte es nicht so richtig, aber es tat immer weniger weh. Von Tag zu Tag wurde es etwas leichter. Bald lachte sie wieder.
Das hielt aber nicht lange an, denn heute hatte sie sich in ihr Zimmer getraut. "Vielleicht hilft es mir.", hatte sie sich gedacht, aber sie lag falsch. Es machte alles schlimmer, es brachte das grausame Gefühl wieder zurück und nahm sie vollkommen ein. Nun stand sie vor dem Spiegel und versuchte normal zu atmen. ,,Du schaffst das. Du wirst da durchstehen.", sprach sie zu sich selbst und presste fest die Augen zu. Und egal, wie sehr es schmerzte, egal wie sehr sie ihre Wärme vermisste, sie musste weiterkämpfen. Sie durfte nicht wie aufgeben.
Nicht so wie sie.