Die Zeit läuft ab jetzt...

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Dichter, schmutziger Rauch drückte sich in die stinkenden Gassen hinab und versperrte mir die Sicht. Meine zusammengekniffenen Augen sahen kaum zwei Meter weit, dennoch huschte ich schnell zwischen den Häusern entlang. Ich hatte es eilig. Immer wieder stieß ich beinahe mit anderen Menschen zusammen, die sich ebenfalls durch die übel riechenden und verwinkelten Straßen quälten.

Ich hatte mir einen Schal vor die Nase gebunden, um das Gemisch aus Chemie, Abgasen von den Fabriken und Abwässern nicht riechen zu müssen. Die beißende Luft brachte meine Augen zum Tränen, aber ich versuchte es weitestgehend zu ignorieren. Ich schaffte es nicht. Es roch wie faule Eier aus einer Toilette – auf einer Skala von eins bis zehn, mindestens eine 12. Ich beeilte mich und hastete weiter.

Verärgert rückte ich mal wieder die kleine Schatulle in meiner Innentasche wieder zurecht. Immer wieder drohte sie rauszurutschen und in den Schlamm zu meinen Füßen zu fallen. Mit dem Gedanken an ihren Inhalt musste ich mich zusammenreißen. Nicht öffnen!

Eigentlich war ich Informant. Kein dämlicher Kurier. Allein, dass ich jetzt für diese kleine Schachtel durch das grausame Wetter huschte, dass sich erst heute Abend verziehen würde, ließ mich genervt ausatmen. Nur, weil ich Seth einen Gefallen schuldig war. In Zukunft würde ich mir besser überlegen, wofür ich Gefallen vergab.

Besonders, wenn ich dafür in das Gebiet einer fremden Gang musste.

Unwillkürlich verschnellerten sich meine Schritte und ich erreichte den ausgemachten Treffpunkt unter einer Laterne. Nicht, das sie funktionierte, aber da sie weit und breit die einzige war die noch stand, war sie ein guter Treffpunkt. Außerdem konnte man von hier aus gut abhauen. Zu allen Seiten gab es Fluchtmöglichkeiten.

Der Smog war erstaunlicherweise nicht ganz so stark und ich konnte sehen, wer an mir vorbei ging. Kaum einer beachtete mich, wie ich mit tief in die Stirn gezogener Kapuze und verdecktem Gesicht unter einer Laterne stand und mich so gut es ging, verbarg.

„Guten Tag" raunte neben mir auf einmal eine gedämpfte Stimme und ich wirbelte erschreckt herum. Neben mir stand eine junge Frau, deren Gesicht ebenfalls von einer großen Kapuze verborgen wurde. „Sie haben etwas für mich?" fragte sie und blickte sich um. Ich nickte und mein Puls beruhigte sich wieder ein weinig „Vielleicht." „Oh, natürlich" murmelte sie und zog einen Ring von ihrem Finger ab. Ich nahm ihn an mich, betrachtete ihn einen Moment und gab ihn ihr lächelnd zurück. „Netter Versuch." Der Ring war nicht der, der er sein sollte. Keine Ahnung, wer das war, aber ganz sicher nicht der richtige Empfänger für das Päckchen. Das hatte mir grade noch gefehlt! Nichts hasste ich mehr, als Konflikte, die nicht meine waren und in die ich hineingezogen wurde. „Gib mir das Päckchen" sagte die Frau jetzt auf einmal drohend und ich nickte. „Ist ja gut. Es ist gleich dort hinten." Ich zeigte in eine beliebige Richtung und als die Frau dorthin guckte, rannte ich los.

Es war ein miserabler Plan, zu schlecht, um wirklich zu funktionieren. Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht eine Sekunde an ihn geglaubt. Nein, nicht mal dann, als es ihn noch nicht gab.

Der Nebel verschluckte mich zwar sofort, aber die zwei Meter Vorsprung waren nicht der Rede wert gewesen. Ihre schnellen Schritte waren direkt hinter mir zu hören. Also rannte ich jetzt so schnell ich konnte durch den grauen Nebel, in der Hoffnung die Frau abzuhängen. Sie kannte sich hier aus, ich nur ein bisschen. Die Schritte hinter mir kamen immer näher, was bei zwei Meter Vorsprung gar nicht gut war und ich drehte meinen Kopf kurz um zu gucken, wie wenig Abstand noch zwischen uns lag.

Genau in diesem Augenblick stieß ich mit jemandem zusammen und blickte ihm einen Moment in seine Hellblauen Augen, bevor er zu Boden fiel. Er hatte fast die gleiche Augenfarbe wie ich, stellte ich mit dem kurzen Blick fest. Ich konnte mich grade noch fangen und rannte mit einem schnellen „Sorry" weiter.

Die Schritte hinter mir verstummten kurz und ich lief zufrieden weiter. Die Frau hielt den Jungen mit den ähnlichen Augen sicher für mich. Ein kleiner Vorsprung, den ich ausnutzte.

Bald hatte ich sie zum Glück abgehängt und erreichte wieder das Revier meiner Gang, in dem ich mich sofort sicherer fühlte. Dennoch rannte ich zunächst weiter, da ich hier niemandem wirklich vertraute. Außer Atem erreichte ich die kleine Bäckerei, in der ich wohnte, seit wir hier festsaßen. Es war zwar nicht mein richtiges Zuhause, aber besser als wie viele andere, die weniger Glück gehabt hatten, mehr oder weniger auf der Straße zu leben.

Ich drückte die Ladentüre auf und entwischte dem unangenehmen Wetter in unserem Viertel. Der alte Bäckermeister stand am großen Ladenfenster und blickte in die matschigen Grautöne, die sich vor dem Fenster zu einer hässlichen Suppe vermischt hatten. „Ob heute nochmal die Sonne scheint?" fragte er und starrte weiter nach draußen. Ich zog mir meinen Mantel aus und hängte ihn an den Harken neben der Türe. Das kleine Päckchen nahm ich an mich und ließ es in der großen Tasche meiner verwaschenen Sweatjacke verschwinden. Ohne dem Bäckermeister zu antworten ging ich nach hinten ins Lager. Heute würde die Sonne ganz sicher nicht mehr scheinen, so wie jeden Tag, seit Tag Null für uns alle hier. Nur abends verzog sich der Nebel und dann war es schon dunkel und morgens kam er erneut. Manchmal konnte man einen kurzen Blick auf die aufgehende Sonne erhaschen, aber das war eine Seltenheit. Dennoch starrte der alte Mann jeden Tag viel Stunden nach draußen, in der Hoffnung, ein bisschen Sonne genießen zu können.

Ich durchschritt das Lager und öffnete eine schmale Türe, hinter der sich eine enge und steile Treppe verbarg.

Schnell ging ich nach oben, in mein Zimmer, schloss die Türe hinter mir und warf das kleine Päckchen auf mein Bett. Egal, was drin war, es würde mir Ärger einbringen, wenn ich es nicht abgab. Ich würde heute Nacht also erneut nach draußen gehen müssen.

Die feuchte Luft war durch mich durch gezogen und ich wechselte meine Klamotten. Während ich mir mit nacktem Oberkörper ein neues T-Shirt suchte, blieb mein Blick an meinem Spiegelbild hängen. Wie fast alle in unserem Viertel hatte ich vernarbte Verbrennungen, die durch die Explosion entstanden waren. Mein halber Rücken war verbrannt und auch auf meinem Bauch waren einige Brant Narben. Die Narbe auf meinem Herzen war besonders schlimm. Doch ich hatte Glück, andere waren komplett verbrannt worden, damals vor ungefähr acht Jahren. Schnell streifte ich mir ein halbwegs frisches Shirt über und ging wieder nach unten. Hätte der alte Bäckermeister mich damals nicht aufgenommen, wäre ich jetzt vermutlich nicht mehr am Leben. Ich schluckte. Es waren einige Menschen damals gestorben. Ich hatte ganz klar vor Augen, wie mein zehnjähriges Ich weinend und schreiend durch die zerstörten Straßen lief. Das schlimmste war gewesen, dass alle, die von der Explosion betroffen waren, ihre Erinnerungen und ihre Bestimmungen verloren hatten. Bestimmung vielleicht gut, Erinnerung scheiße. Angeblich machte uns das gefährlich.

Ich kam zurück in den Laden, wo der Meister wieder angefangen hatte, Brot zu backen. Es war wässrig und das Mehl schon etwas älter. Dennoch backte er gut und lecker. Er hatte damals natürlich nicht gewusst, wie er hieß, deshalb hatte ich ihn einfach Sun genannt und er hatte es akzeptiert. Sun, weil er immer auf die Sonne wartete.

Wortlos schnappte ich mir den Besen und fing an, den Laden zu fegen. Bis es dunkel wäre, wäre ich mit meinen Aufgaben fertig. Sun hatte nie verlangt, dass ich ihm half, aber es war eine Stille Abmachung zwischen uns beiden. Außerdem konnte ich hier so meiner Arbeit als Informant perfekt und unauffällig nachgehen. Zumindest vor der Polizei. Sun wusste natürlich davon.

Ich schweifte wieder in meine Gedanken ab.

Von der Regierung waren wir alle nach der Explosion und der damit passierten Erinnerungslöschung, in ein großes Viertel gesperrt worden, wo wir uns selbst überlassen worden waren. Nur, wenn du von einem Familienangehörigen identifiziert und mitgenommen worden warst, durftest du das Viertel verlassen. Mich hatte niemand abgeholt. Vielleicht waren meine Eltern bei Explosion gestorben. Irgendwie hoffte ich es, denn der Gedanke, vergessen worden zu sein, schmerzte.

Einmal im Monat konnte man sich bei einer Stelle melden und die guckten, ob es jemanden gab, der dich in einer der Listen erkannt hatte, doch ich war nach etwa meinem elften Geburtstag nicht mehr hingegangen. Wann genau ich Geburtstag hatte, wusste ich nicht, ich hatte keine Erinnerungen mehr daran. Sun hingegen ging jeden vierten Sonntag im Monat, seit sieben Jahren. Er hatte die Hoffnung wohl noch nicht aufgegeben.

Ich schon, mich würde keiner mehr holen kommen. Ich war siebzehn. Wenn mich zehn Jahre keiner abgeholt hatte, würde es auch keiner mehr tun.


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