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„Ice, hier ist jemand für dich", riss mich Suns Ruf aus meiner konzentrierten Arbeit. Ich saß oben in der Küche und verzierte ein dutzend Muffins mit Zuckerglasur und aufwendigen Mustern. Kopfschüttelnd ließ ich meine Arbeit liegen und ging runter in den Laden.

Unten standen Sun und noch ein anderer, deutlich jüngerer Mann im Laden und redeten miteinander. Als die beiden mich sahen, blickten sie auf. „Das ist ein Bote von einem deiner Auftraggeber", informierte Sun mich und ließ uns beide alleine. Ich betrachtete den Mann genauer und wusste sofort, dass es einer von Souls Boten war. Er wirkte dreckig, aber nicht schmutzig. Sein Blick war hungrig, aber nicht verrückt. Noch nicht. „Was gibt es?", fragte ich leise und trat nahe an ihn heran. Seine Stimme klang heiser und rauchig. „Soul hat jemanden gefunden, der dir vielleicht helfen könnte. Du sollst morgen Abend zu ihm ins Geschäft kommen." Sofort schlug mein Herz schneller und ich bedankte mich mit einem knappen Nicken. Der junge Mann verschwand wieder durch die Ladentüre und ich wandte mich der Treppe zu. Sun hielt mich auf und fragte versucht neutral. „Was wollte er?" Ich antwortete abwehrend: „Du weißt doch, dass ich nicht übers Geschäft rede oder?" Sun seufzte und nickte kummervoll. „Ja ich weiß, nur der Mann wirkte gar nicht seriös." Ich zuckte mit den Schultern und ging wieder nach oben. Mir war klar, dass Sun nur wieder ein Gespräch hatte anfangen wollen.

Am Abend begab ich mich zu Souls Geschäft. Heute war dort mehr los und jede Menge zwielichte Gestalten tummelten sich in und vor dem Laden. Ich schob mich an ihnen vorbei, ins Innere und hielt Ausschau nach meinem früheren Chef. Buntes Licht blitzte durch den Nebel und es war schwer, inmitten all der Körper den richtigen zu finden. Schließlich entdeckte ich ihn im Gespräch mit zwei hageren, düster aussehenden Männern. Geduldig wartete ich, dass sie fertig waren und ging schnell zu ihm. Ich musste fast schreien, damit er mich verstand. „Du hast etwas für mich?" Er antwortete mindestens genauso laut: „Hinter dem Geschäft." Ich verstand und wendete mich wieder ab. Es dauerte etwas, bis ich wieder draußen war und entspannte mich ein bisschen. Allerdings nur kurz, denn hinter seinem Geschäft war es dunkel und unheimlich.

Ich schlich an der Mauer entlang und befand ich mich kurz darauf in einer dunklen, dreckigen Sackgasse. Undeutlich nahm ich im schwachen Mondlicht eine Gestalt wahr. Entschlossen ging ich auf sie zu, konnte aber das Pochen meines Herzens ganz deutlich im inneren meiner Brust spüren. Meine Muskeln waren bis aufs äußerste gespannt. Ich war bereit mich zu verteidigen. Der junge Mann stand im Schatten verborgen und ich konnte sein Gesicht trotz abgesetzter Kapuze nicht sehen. Nur seine grünen Augen schienen das wenige Licht zu reflektieren. Sie glänzen und der Spott darin war unverkennbar „Du hast Angst", sagte er nur und ich schluckte schwer. Der junge Mann trat auf mich zu und endlich konnte ich mehr von ihm sehen. Er hatte braune Haare und war ungefähr 17 Jahre alt, wenig jünger als ich. „Wer bist du?", fragte ich und ärgerte mich, weil meine Stimme so unsicher klang. Sein Hohn gegenüber mir war unverkennbar. „Es spielt keine Rolle wer ich bin, denn ich kann jeder sein, immer und überall. Ich bin, wer ich will. Im Moment gibt es mich nicht wirklich, ich bin ein Phantom. Versuch gar nicht erst mich zu finden, denn ich finde dich. Wer du bist weiß ich schon. Wenn du willst, nenn mich Live." Ich nickte lahm und vermutete: „Du bist nicht von hier?" Der Junge lachte. „Oh nein, mein Leben findet eigentlich ganz woanders, zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort statt. Ich bin nur hier, weil ich Geschäfte machen kann." Ich schluckte und räusperte mich ein bisschen, um wieder etwas Flüssigkeit in meinen Mund zu bekommen. Der machte mir echt Angst! „Hör zu, ich kann dir helfen", riss er mich aus meiner Starre raus. „Ich kann dir eine falsche Identität beschaffen. Damit wird dich nie einer finden. Aber der Preis dafür ist hoch. Bist du bereit, ihn zu zahlen? Du musst mir jetzt eine Antwort geben." Er wartete geduldig ab, dass ich etwas sagte. „Was ist denn der Preis?", erkundigte ich mich und versuchte mein rasendes Herz zu ignorieren. „Du verkaufst ein Jahr deines Lebens an mich." Er schwieg einen Moment und genoss meine Irritation. Live verhöhnte meine Unentschlossenheit. „Hör mir zu. Jeder muss Opfer bringen, jeder muss für seine Entscheidungen bezahlen, jeder auf seine Art und Weise. Du hast Glück, du kannst es selber tun, selber bestimmen, was du machst, nur dafür musst du wissen, was du willst. Es ist deine Entscheidung." Seine Augen schienen auf einmal mehr schwarz als grün zu sein und ich trat einen Schritt zurück. „Müsste ich töten?", verlangte ich mit zitternder Stimme zu wissen. Live antwortete nicht, zuerst nicht, dann sagte er: „Weißt du, was Live rückwärts gelesen bedeutet?" Im Kopf las ich das Wort rückwärts und erstarrte. Live beobachtete mich genau und lächelte hinterhältig. „Ich sehe schon, dass könntest du nicht mit dir vereinbaren. Wie edel von dir." Er lachte spöttisch. Ich schluckte und wollte etwas antworten, doch es kam kein Ton aus meinem Mund. Live trat einen Schritt zurück, sofort war die Dunkelheit wieder um ihn herum und verbarg ihn. „Edel geht die Welt zugrunde, wusstest du das?" Er trat noch einen Schritt zurück und noch einen. Ich wollte „Warte" rufen, doch nichts dergleichen geschah. Mein Mund war staubtrocken. Er entfernte sich noch einen Schritt und noch einen und auf einmal war da nur noch Dunkelheit. Schwarz, in seiner reinsten Form. Einen Moment lang blickte ich wie hypnotisiert auf die Stelle, wo er eben noch gestanden hatte, dann löste ich mich und blickte mich unwohl um. Er schien weg zu sein.... und damit auch meine Chance, wie mir auf einmal klar wurde. Wütend über mich selbst blickte ich noch eine Weile in die Dunkelheit. Diese Chance war vorbei. Zorn kam in mir auf und entschlossen lief ich hinter ihm her. Doch wenige Meter vor mir ragte eine Mauer auf. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Das hier war eine Sackgasse. Erneut spürte ich eine Wut in mir, die stärker und stärker wurde. Zornig ballte ich meine Hände zu Fäusten und schlug damit hart gegen die Mauer, doch außer Schmerzen brachte mir das nichts. Verzweifelt hielt ich inne und versuchte mich wenig erfolgreich zu beruhigen. Das war die einzige Möglichkeit gewesen und ich hatte gezögert, mich nicht entscheiden können. Was war schon ein Jahr, im Vergleich zu einem ganzen Leben? Voller Zorn auf mich selber verließ ich die Gasse wieder und machte mich auf den Heimweg.

Die kurz darauf zu Staub zerfallene Mauer bemerkte ich nicht mehr.

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