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Liams Sicht

„Danke euch, das Frühstück war echt lecker, wäre aber nicht nötig gewesen." Die beiden tätowierten Muskelriesen klopften mir freundschaftlich auf die Schulter. Ich saß zwischen ihnen in einer spärlich möblierten Küche, eingekeilt auf einer schmalen Bank, die kaum das Gewicht von uns dreien auszuhalten schien. Eick meinte wegwerfend: „Das ist doch das mindeste, was wir für dich tun können. Hast du gut geschlafen?" Ich nickte und nahm einen großen Schluck Kakao. Er war zwar ein bisschen wässrig, aber die Geste zählte. „Ich bin euch wirklich dankbar, solange bei euch schlafen zu dürfen, wie ich will." Maik winkte ab. „Nicht der Rede wert. Wenn du Personenschutz brauchst, sind wir gerne für dich da." Dankbar nickte ich und kostete von einem frisch gebackenen Kuchen. Die beiden Zwillinge betrachteten angespannt mich und den Kuchen, während ich mir ein Stückchen nahm. Herzhaft biss ich hinein und hielt meinen Daumen hoch. Erleichtert atmeten sie aus. „Unser erster Versuch", erklärte Eick. „Ist toll geworden", nuschelte ich mit vollem Mund. Der Kuchen war wirklich gut geworden, schön luftig und mit tollem Zitronengeschmack. „Was wir aber immer noch nicht verstanden haben, weshalb es so wichtig ist... wie hieß er nochmal... zu finden?" „Aurelius heißt er." Maik schüttelte sich. „Was für ein schlimmer Name." Ich stimmte ihm zu. „Was du nicht sagst." Eick druckste ein bisschen herum, bevor er schließlich zögerlich fragte: „Und du... bist wirklich ein Übernatürlicher?" Ich nickte und schluckte ein weiteres Stückchen Kuchen hinunter. „Ja ich weiß, ist ungewöhnlich." „Ganz richtig mein geschätzter Freund", unterbrach Eick mich. „So etwas gab es noch nie." Ich nickte zustimmend. „Richtig. Meine Fähigkeiten sind ab meinem 10. Lebensjahr aufgetreten. Normal passiert dies erst mit 18. Somit ist auch meine Bestimmung mit zehn aufgetreten." Bei manchen Menschen war das Gen stärker ausgeprägt und verlieh ihnen bestimmte Fähigkeiten. Bei mir war es wohl besonders stark ausgeprägt. „Und die haben dich nicht umgebracht?", fragte Maik ungläubig und starrte mich an. „Offensichtlich nicht. Meine Bestimmung war gut, deshalb durfte ich am Leben bleiben." Maik und Eick betrachteten mich beeindruckt und ich fühlte mich etwas beobachtet. Eick unterbrach die kurze Stille und fragte weiter: „Was ist denn deine Bestimmung?" Ernst antwortete ich: „Er wird die Welt retten." Die beiden schwiegen verblüfft, bis Maik anmerkte: „Das ist wirklich nicht schlecht. Eine große Verantwortung nicht wahr?" Besonnen stimmte ich zu. „Ja das ist richtig und die Regierung beobachtet mich deshalb sehr genau, um mir helfen zu können. Ich bin mir sicher, dass meine Fähigkeit, Menschen freundlich werden zu lassen, mir dabei helfen wird. Wie genau ich die Welt retten werde, weiß ich nicht genau, aber ich nehme die Verantwortung selbstverständlich an und bin mir ihrer Wichtigkeit sehr bewusst." „Du bist erst 14 Jahre alt", merkte Eick kummervoll an. Da hatte er Recht, aber ich fühlte mich dieser Aufgabe gewachsen. Eick räusperte sich. „Und was, wenn ich fragen darf, hat das mit Aurelius zu tun?" „Wenn ich ein Übernatürlicher bin, ist es sehr gut möglich, dass er es auch ist. Ich will ihn warnen, bevor seine Kräfte mit 18 Jahren vielleicht auftreten und er umgebracht wird." Maik kratzte sich den tätowierten Schädel. „Und was willst du dann machen?" Ich zuckte mit den Schultern und seufzte laut. „Wenn ich das nur wüsste."

Liams Sicht Ende

Frustriert starrte ich die Decke über mir an und zählte die schwarzen Punkte, die auch Spinnen hätten sein können. Es konnte doch nicht so schwer sein, diesem Test zu entgehen und dennoch normal weiterzuleben! Wut kam in mir auf und ich merkte, wie sich mich einnahm. Es fühlte sich gut an und ich ließ zu, dass sie in unnachgiebigen Wellen über mich hineinbrach. Voller Zorn atmete ich zitternd aus und kniff die Augen zusammen. Wenn es sein musste, würde ich alles dafür tun, um hier bleiben zu können! Ich ballte meine Hände zu Fäusten und fixierte die Decke über mir mit stechendem Blick. Plötzlich klopfte jemand an meine Türe und Sun betrat mein Zimmer. Mein Blick wendete sich dem alten Mann zu, der zu einer Frage ansetzte, doch dann abbrach. „Was hatte ich dich noch gleich Fragen wollen?" Meine Wut verschwand wieder ein bisschen, Sun konnte für all das nichts. „Ich weiß nicht", antwortete ich möglichst freundlich und betrachtete wieder die Decke. Ich hörte, wie Sun sich am Kopf kratzte und murmelte: „Vielleicht werde ich ja doch senil." Er seufzte und verließ mein Zimmer wieder. Kaum war er raus, stand ich auf und schnappte mir meinen Umhang. Hier Trübsal zu blasen brachte mich nicht weiter. Mit Schwung ließ ich den schwarzen Stoff um meinen Körper gleiten und machte ihn vorne zu. Mein Blick blieb an meinem Spiegelbild hängen. Stumm betrachtete ich meine eisblauen Augen und das blasse Gesicht. Immer noch schienen die Augen dieses Stechende an sich zu haben. Ich fixierte mich noch einen Moment, dann schlug ich die Kapuze hoch und meine Augen waren bedeckt.

Kaum war ich vor die Ladentüre getreten, bemerkte ich links neben mir einen grauen Umhang. Ich ging zu ihr und zog die Kapuze ab. Nebel betrachtete mich mit triumphierendem Blick und hielt zwei Stricknadeln hoch. „Hat ganz schön lange gedauert", bemerkte ich unfreundlich, doch Nebel zuckte mit den Schultern. „War auch nicht so ganz einfach." Sie glättete die verfilzten Haare und schlug ihre Kapuze wieder hoch. „Was machen wir jetzt?", wollte sie ungeduldig wissen und lief neben mir her. Ich überlegte einen Moment. Wir machten eigentlich gar nichts, aber für heute würde ich sie wahrscheinlich nicht mehr loswerden. „Ich würde sagen, wir bringen die Stricknadeln dem, der sie will. Ich stelle dich ihm vor, denn eine weitere Regel für einen Informanten ist: Jeder ist dein Kontakt. Du musst nur wissen, wen du wann fragen musst." Nebel hatte mir eifrig zugehört und sich jedes Wort eigeprägt. Sie schien begeistert zu sein, dass ich sie mitnahm.

Auf dem Markt fand ich Joes Stand zuverlässig wie immer an der gleichen Stelle. Nebel wollte direkt dorthin, doch ich hielt sie zurück. „Warte", sagte ich leise und deutete auf zwei Polizisten, die nahe am Stand vorbei gingen. „Immer erst gucken und Denken, dann Handeln. Außerdem betreut er grade eine Kundin. Wir warten lieber, bis sie weg ist." Nebel schien zu verstehen und wartete geduldig, bis ich das ok gab.

Joe hatte uns schon gesehen und begrüßte mich erfreut. „Wie gefällt Sun seine Mütze?" „Die habe ich ihm noch nicht geschenkt", erklärte ich und dachte daran, wie sie unter meinem Bett verstaubte. „Wie machen sich, du weißt schon was?", erkundigte ich mich und Joes Gesicht hellte sich augenblicklich auf. „Ganz wunderbar." Nebel schien irritiert und mischte sich ein. „Worüber redet ihr?" Ich erkläre grob: „Das ist geschäftlich." Joe betrachtete die Kleine und meinte gönnerhaft: „Sei doch nicht so grob zu ihr. Wer bist du überhaupt?" Nebel erklärte stolz: „Nebel ist mein Name und ich lerne bei Ice, wie ich eine richtige Information werden kann. Schön dich kennen zu lernen!" Während sie erklärt hatte, hatte Joe mir immer wieder amüsierte Blicke zugeworfen und ich hatte unauffällig versucht, ihm klar zu machen, dass das nicht stimmte. Nebel überreichte ihm schließlich die Nadeln und Joe erklärte sich lachend dazu bereit, ein Kontakt für Nebel zu werden.

„Was ist eigentlich aus diesem Liam geworden?", fragte ich sie als wir allein durch eine Gasse zurück zur Bäckerei liefen. Nebel zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich war so beschäftigt, die Nadeln zu bekommen, dass ich ihn nicht mehr kontaktiert habe." Am liebsten hätte ich meinen Kopf gegen eine der Mauern um mich herum geschlagen, doch stattdessen meinte ich verärgert: „Dann kümmere dich ab jetzt um diese Angelegenheit." Nebel nickte eifrig und fragte: „Ab wann?" „Jetzt", fauchte ich und sie verschwand mit einem beschwichtigtem „jaja" im Nebel.

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