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Gegen Mittag stand ich zum zweiten Mal an diesem Tag auf. Nicht, dass ich nochmal gemusst hätte, aber ich mochte es, durch die Straßen zu streunen und Neues zu entdecken. Egal, ob es Kontakte, nutzloses Zeugs, oder anderer Kram war, ich hatte die Vorstellung, alles später noch einmal verwenden zu können. Manchmal klaute ich auch Dinge, die mir gefielen. Außerdem konnte es gut sein, dass ich einen neuen Auftrag bekam und dem Auftraggeber wollte ich nicht im Schlafanzug entgegentreten. Schließlich erhielt ich nicht nur von Seth Aufträge. Auch normale Menschen beauftragten mich mit den verschiedensten Dingen. Manchmal waren es einfach nur Gegenstände, die ich finden, oder organisieren sollte. Ab und zu waren es auch Kontakte oder Beziehungen jeder Art, die ich arrangierte. Vielen fehlten die Informationen, wo sie was fanden und da half ich dann gegen Bezahlung.

Heute jedoch kam ich nicht einmal bis vor die Türe. Als ich mit meinen schwarzen Klamotten umhüllt, durch den Laden schritt, ließ mich Suns Stimme erstarren. Er sagte einfach nur: „Ice, warte." Doch seine Stimme klang nicht normal, nicht so wie sonst, sondern panisch.

Ich drehte mich um. „Was ist los?" Er starrte mich mit geweiteten Augen an und da erst fiel mein Blick auf den Briefumschlag in seiner Hand. Mein Gehirn brauchte nicht eine Sekunde, um zu verstehen, was er da in den Händen hielt. Nicht gut. Der Brief, der mich aufforderte, an meinem 18. Geburtstag den Test zur Feststellung meiner Bestimmung zu machen. Ich trat langsam auf ihn zu und nahm ihm den Briefumschlag aus den Händen. „Ein Polizist hat ihn heute Morgen gebracht." Seine Stimme klang lahm und verängstigt. Meine Vermutung bestätigte sich, als ich die Adressaten las. „147" Das war ich. Der Absender war die Regierung. „Woher wissen die, dass ich hier wohne und das ich 147 bin?" Ich sprach die Zahl „147" wie Dreck aus. Ich war keine Nummer! Sun schüttelte verunsichert den Kopf. „Ich weiß nicht. Sie beobachten uns ständig, außerdem habe ich damals angegeben, dass du bei mir wohnst." Meine Finger fuhren über den weißen, kalten Briefumschlag, auf dem vorne nur klein „147" stand. Das war auch der Grund, weshalb mich dieser Liam im falschen Stadtviertel suchte. Bei der Durchnummerierung hatten die Menschen vorne am Tor niedrige Nummern bekommen und die weiter hinten höhere. Aber ich wohnte mit Sun schon lange nicht mehr dort, sondern hier und deshalb suchte er eben an der falschen Stelle. Warum fiel mir das gerade erst ein? Liam musste meine Nummer haben! Woher?!

Ich schüttelte ihn aus meinem Kopf und blickte wieder zu Sun, der recht verängstig aussah. Normale Menschen hätten jetzt auch Angst bekommen und sich gegenseitig versucht zu trösten, doch ich erkannte dieses System nicht an, nein, ich verachtete es. „Das ist doch sieben Jahre her." Sun stimmte mir zu „Ja, aber unser Wohnsitz hat sich seither nicht mehr geädert." Grimmig blickte ich an Sun vorbei, auf den Ofen. „Weißt du Sun, diese Welt ist so falsch und dennoch existiert sie. Warum? Weil niemand eine Chance hat, alles hängt vom Schicksal ab. Ich hasse das Schicksal und bin davon überzeugt, eine Welt mit Schicksal ist falsch. Ich werde mein Schicksal selber in die Hand nehmen und es nicht von dieser Regierung abhängig machen." Abwägend fühlte ich das Gewicht des Briefes in meiner Hand und schätzte den Abstand zum Ofen ab. „Außerdem...", ich legte den Kopf schief und grinste abfällig „...glaube ich nicht, dass ich ein Übernatürlicher bin oder eine schlechte Bestimmung habe. Vielleicht doch, aber selbst wenn, werden sie es nie erfahren." Sun legte einen Moment seine Stirn in verwirrte Falten, dann erkannte er meine Absicht und rief erschrocken: „Nein". Doch zu spät, außerdem hätte er mich ohnehin nicht abhalten können. Mit einem letzten prüfenden Blick auf den Brief und den Ofen, ließ ich das Schreiben los. Der Umschlag flog in einer schnellen Kurve durch die Luft und schoss durch die Öffnung mitten in die züngelnden Flammen. Sofort fing er Feuer und die gelben Flammen verschlangen in. Wenige Sekunden später war er verbrannt und das Feuer beruhigte sich wieder. „Und wenn ich mit 18 ein Übernatürlicher werden würde, brächten sie mich um. Von daher, sicher ist sicher." Sun stand wie hypnotisiert an der gleichen Stelle und blickte auf meine leeren Hände. „Das hast du nicht getan." Ich nickte. „Hmm doch. Komm schon Sun, was verliere ich denn? Ich lebe hier ziemlich gut! Was für eine Chance sollte das denn sein, die ich dadurch vielleicht bekäme?" Diese Frage schien ihn aus seiner Starre zu befreien und er lief rot an. War er wütend? „DU HAST DIR DEINE ZUKUNFT VERBAUT UND FINDEST DAS WITZIG?" Ich zuckte mit den Schultern. „Welche Zukunft Sun?" Sun schluckte und antwortete mit bebender Stimme. „Du besorgst dir einen neuen Brief, sonst..." er brach ab. Meine Augen blitzen belustigt. „Was sonst?" Sun wandte sich ab und nahm sich zitternd eine Tüte Mehl. Sie rutschte ihm aus der Hand, fiel zu Boden und platzte auf. Weißer Nebel staubte hoch und verbreitete sich in der Bäckerei. Sofort fingen wir an zu husten. Meine Augen brannten. „Alles okay Sun?", fragte ich, ohne ihn zu sehen. „Dieser Brief war dein Freifahrtschein ins Leben. Ich bereite mich seit wir uns getroffen haben, darauf vor, dass du irgendwann ins Leben zurück darfst und du schmeißt deine Chance einfach weg?" „Das ist keine Chance, nicht für mich!", antwortete ich hart und verbittert. Dieser Brief forderte mich auf, an meinem 18. Geburtstag zu der Behörde am Tor zu kommen. Dort wurde die Bestimmung festgestellt und wenn sie gut war, also man nichts Böses tun würde, oder man kein Übernatürlicher war, durfte man das Randviertel verlassen. Für alle, die unter 18 Jahren ihre Erinnerungen verloren hatten, bestand diese Chance, weil sich ihre Bestimmung noch nicht gezeigt hatte. Folglich war sie auch noch nicht verloren gegangen. Sun würde für immer hier bleiben müssen, doch ich musste dorthin. So wie alle 18 Jährigen, auch außerhalb dieses Viertels. Schließlich könnte jeder ein Übernatürlicher sein. Ich schnaubte verächtlich. Selbst wenn ich ein Übernatürlicher war, würde ich mir meine Fähigkeiten, nein, mein Leben nicht durch diesen Test nehmen lassen.

Außerdem war der Test für uns nicht fair. Bei denen draußen war es so, dass wenn sie eine böse Zukunft hatten, entsprechende Maßnahmen eingeleitet wurden. Wenn einer von uns eine Böse Zukunft hatte, musste er hier drinnen bleiben. Das war nicht fair. Was die Bestimmung genau voraus sagte wusste ich nicht, aber das wollte ich auch gar nicht.

„Ich gehe jetzt nach draußen", sagte ich und verließ fluchtartig den Laden. Wenn ich nicht bei dem Test auftauchen würde, suchten sie uns vielleicht ich konnte dann nicht mehr bei Sun wohnen. Von anderen hatte ich gehört, dass sie bei der Jagt gestorben waren. Es gab eine extra Einheit, die nach genau solchen Leuten suchte. Ich musste es irgendwie schaffen, dass die mich Regierung vergaß, dachte, dass ich tot sei.

Während ich unüberlegt durch unser Viertel rannte, formte sich in meinem Kopf ein grobes Bild von meinem eigenen Tod. Verschiedene Leute kamen mir in den Sinn, Kontakte wurden wieder präsent. Mein Tod sollte spektakulär und dramatisch sein. Aber nicht zu auffällig. Ein bisschen von beidem vielleicht.

Erschöpft blieb ich stehen und blickte erstaunt auf. Ich stand 100 Meter vor dem großen Tor. Schnell drehte ich mich um und lief wieder zurück, blieb aber dann doch stehen. Wenn Nebel Recht hatte, verließ dieser Liam jeden Abend das Viertel wieder durch den einzig möglichen Ausgang. In vier Stunden würde die Ausgangssperre beginnen und spätestens dann musste er hier raus sein. Ich war der Meinung, dass die Sperre nur für die Menschen galt, die sich erwischen ließen und kletterte auf ein Dach. Von dort aus lehnte ich mich gegen einen Schornstein und betrachtete die Mauer aus meinem kleinen Fernglas. Nicht viele Menschen passierten das Tor und mir wurde nach und nach ein bisschen langweilig. Dennoch hielt ich es aus. Auf einmal sah ich eine kleine Ansammlung von sechs Leuten, die auf die Türe in der Mauer zugingen. Ich fokussierte sie. Es waren ein Mann und eine Frau, die mit vier unterschiedlich alten Kindern vor der Tür standen. Drei der Kinder waren eindeutig unter 18, aber ein Mädchen könnte in etwa in das Alter passen. Sie schien zu weinen, denn ihr Körper bebte auf und ab, während ich sie beobachtete. Anscheinend durfte sie hinaus in die Welt. Ich versuchte einen Blick über die Mauer zu werfen, doch sie war zu hoch. Uns blieb der Blick auf die andere Welt verwehrt. Mein Blick richtete sich wieder auf die Familie, die sich jetzt umarmte und verabschiedete. Schließlich trennten sie sich und das Mädchen ließ ihre Familie zurück. In dem Augenblick, in dem sie durch die Türe trat, war das Randviertel Vergangenheit. Sie durfte nicht mehr zurück, höchstens zu kurzen Besuchen, die einmal im Jahr erlaubt waren.

Fast schon hatte ich den eigentlichen Grund, weshalb ich hier war, vergessen und konzentrierte mich wieder auf die anderen Menschen. Nach etwa einer Stunde kam er dann und verließ ohne aufgehalten zu werden, das Randviertel. Nachdenklich blickte ich die verschlossene Türe an, schüttelte dann den Kopf und verließ meine Beobachterposition wieder. Warum war er jeden Tag hier? Ich kannte keine Regel, die das erlaubte. Es sei denn, er war eine Ausnahme. Nur welche? Steckte da die Regierung dahinter? Ich lachte. Es klang merkwürdig, hier oben, über den Dächern dieses dreckigen Viertels. Die Regierung suchte mich ganz sicher nicht, ich schüttelte die abstrusen Gedanken aus meinem Kopf und schlug den Weg nach Hause ein. Es war spät, Sun wartete sicher schon auf mich.


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