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Müde schaufelte ich einen unförmigen Brei in mich hinein, während Sun mich zu textete. „Hast du gehört, dass im Conway Kartell..." Extra laut kratzte ich über den Boden der Schale und brachte die letzten Reste auf den Löffel. „...Viele Verletzte. Ich weiß sehr genau..." Mit gelangweiltem Blick stand ich auf. „...außerhalb einen Übernatürlichen gefunden..." Der Stuhl kratzte scharrend über den Holzboden und ich schlurfte zum Herd. Mit einem Gähnen schnappte ich mir den großen Löffel aus dem Topf und ließ eine weitere Portion der unförmigen Masse in die Schale mit dem geklebten Riss fallen. Mit einem schmatzenden Geräusch landete der Brei auf dem Löffel, der über den Rand katapultiert wurde und scheppernd zu Boden fiel. „...Gefährlich und ...." Seufzend hob ich ihn auf „...nicht wundern, wenn..." und setzte mich wieder zu Sun an den Tisch. „...es bald tote gibt." Tote? Skeptisch wachte ich aus meiner morgendlichen Monotonie auf und blickte Sun mit schiefgelegtem Kopf an. „Was?" Sun redete einfach weiter. Wer ihn hatte, brauchte keine Zeitung. Durch seine Kunden war er immer auf dem neusten Stand der Dinge. Besser auf dem neusten Tratsch der Dinge „...Alle aufpassen, da in Zukunft nichts mehr sicher sein wird. Ich spüre das in meinen alten Knochen. Ich weiß nicht, wo uns das alle hinführen wird. Erinnerst du dich noch daran, als...." Ich schaltete wieder ab. Jetzt kamen die Erinnerungen aus „guten" Zeiten. Er hatte etwas von einem Radio. Es hörte einfach nicht auf zu reden. Zumindest morgens.

Vor zwei Tagen war ich beim Conway-Kartell gewesen, doch leider hatte ich Pech gehabt und war schon auf dem Hinweg von einer Gang zusammengeschlagen worden. Nichts gravierendes, doch ich hatte eine kleine Pause machen müssen und war jetzt echt spät dran. Am besten hätte ich die Information für Seth schon gestern, aber das war schwerlich noch möglich. Heute musste auch reichen. Mit einem Seufzen begann ich die zweite Portion in mich hinein zu löffeln. Schließlich stellte ich die Schale unauffällig in die Spüle und verschwand aus dem Zimmer.

In meinem kleinen Raum wechselte ich das ausgewaschene T-Shirt und die lockere Schlafanzughose gegen meine schwarzen Klamotten. Sie waren recht eng anliegend und aus einem sehr weichen Stoff. Das hatte den Grund, dass sie bei Bewegungen keine scheuernden Geräusche machten – sehr praktisch. Während ich das schwarze T-Shirt überstreifte, blieb mein Blick an den Blutergüssen auf meinem Armen hängen. Die Prügelei gestern im Conway-Revier. Grimmig dachte ich an meine Gegner, die es schlimmer als mich erwischt hatte. Die Fähigkeiten, mich zu verteidigen hatte ich noch aus meinem früheren Leben. Unwillkürlich blieb mein Blick an den beiden verheilten Einschusslöschern an meinem Bauch hängen. War lange her und sie hatten einen Wendepunkt in meinem noch jungen Leben bedeutet. Doch zurück zu der kläglichen Gang. Einem hatte ich ganz sicher das Handgelenk gebrochen und ein anderer war bewusstlos zurückgeblieben. Jeder musste bei einem Kampf etwas einstecken. Das war nicht wie in den tollen Geschichten, wo die Helden zuerst abgestochen wurden und dann ohne einen einzigen Schmerzensschrei - wie durch ein Wunder ohne große Probleme aus der Sache wieder rauskamen. Die Vorstellung, ein Held zu sein, gefiel mir. Das Ego eines Helden könnte ich sogar fast schon haben. Die Helden, die ich kannte, waren in gewisser Weise immer etwas selbstverliebt.

Über dem langen T-Shirt zog ich die kurzärmelige schwarze Weste zu und streifte meine geliebte schwarze Jacke über. Als letztes kam der schwarze Umhang, der mein Äußeres, meiner Meinung nach, perfekt machte. Ich war von Kopf bis Fuß Schwarz gekleidet. Meine schwarzen Haare waren da natürlich nur noch die Krönung. Mein Innerstes war natürlich nicht schwarz, aber Image war halt alles. Naja, es hieß, dass man zu der Person wurde, die andere in einem sahen. War sicher etwas Wahres dran.

Ich öffnete die Zimmertüre und trat in den schummrigen Gang, nur um mich sofort zur Türe zu wenden. „Ice, warte", rief Sun auf einmal von hinten. Ich drehte mich um. Trotz der Dunkelheit konnte ich die Freude und den Stolz in seinem Gesicht sehen als er auf mich zueilte. Hatte ich etwas vergessen? Er blieb vor mir stehen und kramte ein kleines Päckchen aus seiner Hosentasche „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag Ice. Jetzt bist du endlich 18." Ich schluckte und musterte Sun ganz genau. War alles in Ordnung mit ihm? „Sun, ja, ich habe heute Geburtstag, heute in drei Monaten. Wir haben April." Das Lächeln in seinem Gesicht erstarb und er ließ das Päckchen in seiner Hand sinken. Er wirkte auf einmal zerbrechlich und verwirrt. Es zerriss mir innerlich fast das Herz, ihn so zu sehen. Er hatte bestimmt lange überlegt, was er mir schenken könnte und ewig gespart, um es kaufen zu können. Da wir mittlerweile etwa gleich groß waren, konnte ich in seine Augen blicken, die auf einmal gar nicht mehr so traurig aussahen. Eher schelmisch. Nur eine Sekunde war ich verwirrt, dann stöhnte ich wissend auf. Sun lachte schallend los. Sein Oberkörper fing an zu zittern und er hielt sich den Bauch, so stark lachte er. Kopfschüttelnd trat ich einen Schritt zurück. „Du dachtest wirklich, ich sei senil", prustete er zwischen zwei Lachanfällen und hielt mir das Packet hin. Ich nahm es, öffnete es und las, was auf den Zettel geschrieben war. „Alles Gute zum 1. April" Ich ließ das Päckchen sinken und hätte am liebsten den Kopf gegen die Wand gehauen. Die Handschrift auf dem Zettel war von mir, vom letzten Jahr. Ein schwaches Grinsen huschte über mein Gesicht und ich schüttelte den Kopf. „Einen schönen Tag noch – und das zahle ich dir heim!" warnte ich ihn und verließ die Wohnung mit dem lachenden Sun. Der erste April, wie konnte ich das nur vergessen? Dabei waren die Zeichen ganz klar gewesen.

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