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Ist euch schon einmal ausgefallen, dass Superhelden nie auf die Toilette müssen? Spätestens jetzt muss euch klar werden, dass ich niemals einer dieser Strumpfhosentragender Typen sein werde, weil ich vor der geschlossenen Badezimmertüre stand und sehr dringend musste. Niemand geringeres als Liam versperrte seit Stunden den kleinen Raum. Keine Ahnung, ob er versuchte, die Dusche leer zu duschen, oder eine Flucht durch die Toilette gewagt hatte, er kam einfach nicht heraus. Wütend klopfte ich gegen die Türe und rief: „Wie lange verdammt brauchst du bitte?!" Ungefähr zwanzig Sekunden später öffnete sich die Türe und Liam guckte mich mit leuchtenden Augen an. „Ich habe meine Erinnerungen wieder." Erfreut packte ich seine Schultern und nickte ihm anerkennend zu. „Wirklich?" Er zögerte einen Moment lang. „Nein." Meine Hand verschwand wieder von seiner Schulter, genauso wie die Freude aus meinem Gesicht. „Ich hatte gehofft, wenn ich so tue als hätte ich sie wieder, kämmen sie vielleicht auch wieder", erklärte er enttäuscht. Mit düsterer Miene schob ich ihn beiseite und schloss mich im Bad ein.

Anschließend verschwand ich in meinem Zimmer und warf mich auf mein Bett. Dieser Junge ging mir jetzt schon mit seinen kläglichen Versuchen, seine Erinnerung zurück zu erhalten, auf die Nerven. Bis jetzt war aber noch nichts passiert. Gar nichts. Vielleicht müsste ich mit ihm an den Ort der Explosion zurückkehren, damit er wieder in den Besitz seiner Persönlichkeit kam. Ich betrachtete nachdenkend die Decke, an der sich in letzter Zeit kleinere Risse gebildet hatten. Wo die wohl herkamen? War auch egal, diese Frage konnte ich mir stellen, wenn das Haus in sich zusammenfiel. Jetzt hatte ich wichtigere Fragen zu klären, zum Beispiel, wie Liams Erinnerung wiederkam. Zum Ort der Explosion zurück zu kehren, hielt ich für eine gar nicht so schlechte Idee. Mit dieser Idee im Kopf, ging ich in die Küche, wo Liam angefangen hatte, etwas zu kochen und Sun summend eine Zeitung las. „Woher kennst du das Rezept?", fragte ich, in der Hoffnung, dass er unterbewusst wieder etwas Neues wusste. Liam guckte auf und zeigte auf Sun. Ich seufzte, ging zu Sun und ließ mich neben ihm auf die Bank fallen. „Weißt du was, ich habe eine Idee wie du deine Erinnerungen zurückerlangen kannst", deutete ich lose und beiläufig an. Liam drehte sich begeistert um und fragte: „wirklich?" Ein fieses Grinsen machte sich auf meinem Gesicht breit. „Nein". Die Begeisterung verschwand wieder aus seinem Gesicht und er guckte mich ausdruckslos an. Ich erklärte: „Ich hatte gehofft, wenn ich so tue, als hätte ich eine Idee, dann kämen sie vielleicht auch wieder." Liams ausdrucksloses Gesicht wechselte zu Traurig und Tränen bildeten sich in seinen Augen. Mit brüchiger Stimme murmelte er: „Glaubst du, ich habe sie gerne verloren?" „Nop", antwortete ich schulterzuckend und grinse. Liam fing an zu weinen und rannte aus der Küche. Sun legte seine Zeitung beiseite und fuhr sich durch sein spärliches Haar. „Was sollte das denn jetzt?", fragte er unwirsch. Ich beäugte die Decke über mir und antwortete ohne eine Spur Reue: „Er hat das verdient." „Niemand hat es verdient, seine Erinnerungen zu verlieren Ice, niemand!" Von der plötzlichen Heftigkeit in seiner Stimme überrascht, schaute ich ihn an. Eine Antwort hatte ich aber dennoch. „Ich habe mich damit abgefunden." „Nicht nur unsere Fähigkeiten machen uns aus, sondern auch unsere Entscheidungen", fuhr er etwas freundlicher fort. „Hä?" Mir fehlte der Zusammenhang. „Nur weil du gut Menschen verletzten kannst, heißt es nicht, dass du das solltest." „Wann habe ich bitte jemanden verletzt?", wollte ich gereizt wissen, doch Sun brauchte nicht einmal eine Sekunde um zu kontern. „Abgesehen von Liam grade vor einer Minute, Nebel. Sie hat zu dir aufgeguckt, getan was du wolltest und du hast sie wie einen lästigen Hund behandelt." Sollte ich jetzt ein schlechtes Gewissen haben? „Ich möchte, dass du zu Liam gehst und mit ihm redest, dich entschuldigst" verlangte Sun. „Aber..." „Sofort!" Mit bissiger Miene stand ich auf und verließ die Küche wieder. Verdient hatte Liam es sicher nicht, aber ich wollte mal nicht so sein. Ich betrat sein Zimmer. Nein, das war falsch. Es war eigentlich mein Zimmer. Liam saß auf meinem Bett, lehnte an meiner Wand und heulte in meine Bettdecke. „Liam?" Er schaute auf und ich trat ein. „Hey, ich wollte sagen, dass es mir Leid tut." Er schluchzte. „Ach, das ist schon okay. Aber weißt du, es ist schrecklich, nicht zu wissen, wer man ist und keine Vergangenheit zu haben. Nicht zu wissen, was einen ausmacht." Ich betrachtete ihn nachdenklich. „Naja, da gewöhnt man sich irgendwie dran, weißt du." „Aber es muss doch einen Grund haben, weshalb ich hier bin. Anscheinend habe ich vorher auf der anderen Seite der Mauer gelebt und ein anderes Leben gehabt. Es gibt sicher Menschen, die mich vermissen." „Warum gehst du nicht zurück?" „Weil es einen Grund gibt, weshalb ich hier bin und ich glaube nur hier kann ich meine Erinnerungen wiederfinden. Außerdem bin ich anscheinend der einzige, der einen Besucherausweis hat und sich hier drinnen frei bewegen darf. Das muss doch einen Grund haben oder?" Ich hatte ihm schweigend zugehört und setzte mich neben ihm aufs Bett. Nachdenklich blickte ich vor mich. „Das letzte, was du gesagt hast, bevor du Ohnmächtig geworden bist war: „Erinnerst du dich echt nicht mehr... unsere Kindheit... zusammen mit unseren Eltern?"" Liam flüstere ganz leise, kaum hörbar: „Du erkennst mich wirklich nicht oder?" Einen Moment herrschte Stille, dann fragte er zögernd: „Das habe ich doch gefragt oder?" Ich starrte ihn an und nickte. „Ja, das hast du gefragt." Liams Gesicht hellte sich ein wenig auf. „Das ist doch schon mal ein Anfang. Wir müssen weitersuchen. Vielleicht kommt noch mehr wieder." Ich nickte zufrieden. „Und ich weiß auch schon wo."


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