Tag 1

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Tag 1: an den Schwarm

Lieber Schwarm,

es gibt so vieles, was ich dir in den letzten drei Jahren schon sagen wollte, aber nicht konnte. Ich habe schon so einige peinliche Momente in meinem Leben erlebt, die mich negativ geprägt haben. Dir zu sagen, dass ich dich mag, würde ein weiterer werden. Das wollte ich verhindern. Ich habe mir die verschiedensten Szenarien ausgemalt. Du magst mich auch, du weist mich höflich ab, du machst dich über mich lustig. Wirklich alles war dabei. Und jede einzelne Vorstellung löste verschiedene Gefühle bei mir aus. Doch im Endeffekt brachten mich alle dazu, es dir nicht zu erzählen. Ich bin ein Mensch, der gerne in seinen Träumen lebt, doch dadurch falle ich nur noch härter auf den Boden der Tatsachen.

Ich mache zwar den Eindruck einer bodenständigen, selbstbewussten Person, dabei bin ich alles andere als das. Ich bin, wie jedes andere Mädchen in meinem Alter, unzufrieden mit mir selbst. Kann man mir auch nicht verübeln, wenn ich zu viel auf den Rippen habe. Nach außen hin verhalte ich mich so, als ob mir das egal sei, aber wenn ich daran denken, dass du wahrscheinlich eher auf schlanke Mädchen stehst, sinkt mein Selbstwertgefühl. Ich hasse es, dass du mich so beeinflussen kannst.

Seit unserer Klassenfahrt in der siebten Klasse, als du mich gefragt hast, ob ich nicht tanzen wollte, hat sich etwas in mir entwickelt. Ich wusste nicht was, denn immerhin war ich erst 12 Jahre alt. Wenige Monate später habe ich es dann endlich realisiert. Ich hab mich in dich verliebt. Es war anders als die Male zuvor, bei denen ich das vermutet hatte. Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass das nur Schwärmerei war. Bei dir bin ich mir allerdings sicher. Vor allem, weil sich dieses Gefühl, das ich empfinde, wenn du mich berührst oder mich ansiehst, über mehr als drei Jahre nur noch verstärkt hat.

Warum ich nicht früher auf dich zu gekommen bin? Ganz einfach.

Erstens: Durch die vielen peinlichen Situationen, die zahlreichen Vorstellungen und der Tatsache, das ich jemanden schlecht vertrauen kann, habe ich mich selber nur noch mehr verunsichert. Ich kann keine Abweisung vertragen, so arrogant das auch klingen mag. Ich hab bereits mehr Scheiße erlebt, als die meisten ahnen bzw. überhaupt jemand weiß. Keiner weiß, dass ich tief in mir drin ein emotionales Wrack bin. Mein Auftreten ist nur Fassade. Sobald ich Zuhause, alleine in meinem Zimmer hocke, fällt sie und mein wahres Ich kommt zum Vorschein. Keiner kennt es und das ist auch besser so. Eine Abweisung von der Person zu erhalten, in die man seit mehr als drei jahren verliebt ist, ist ein Schlag unter die Gürtellinie. Ich glaube nicht, dass ich das ausgehalten hätte. Ich schreibe dir das nicht, um in dir Schuldgefühle oder Mitleid hervorzurufen. Ich will dir einfach meine Gefühle vorlegen, die ich schon so lange mir mir herumschleppe. Ich hatte einfach das Gefühl, vor lauter Frust und Verzweiflung bald zu platzen. Mit diesen Worten wurde mir das etwas genommen.

Zweitens: Ich schäme mich für meine Gefühle. Ich gebe es ungerne zu, aber ich bin selber nicht froh über meine Gefühlslage. Seit drei Jahren habe ich Gefühle für dich, ich weiß, dass ich keine Chance bei dir habe und trotzdem kann ich dich nicht vergessen. Die Schule trägt dazu natürlich ihren Großteil bei. Immer wieder habe ich mich gefragt, wie ich mich in diesen Typen verlieben konnte, der so viel Scheiße labern kann, der andauernd irgendein Mädchen anpacken muss, der so viele dumme Sprüche auf Lager hat und der total pervers ist. Ich hab die Antwort bis heute nicht herausgefunden. Ich wollte meine Gefühle immer wieder unterdrücken, als mir klar wurde, warum ich dich mag - oder eher gesagt, deine bessere Hälfte. Zwei Wörter: meine Brüder. Es ist bewiesen, dass Frauen bei sich ihre Partnerwahl nach ihrem Vater richten, wenn sie ein gutes Verhältnis haben. Ich habe zwar ein recht gutes Verhältnis zu meinem Dad, mag ihn aber nicht besonders. Dafür stehe ich meinen Brüdern näher, wenn auch nicht ganz so nahe, wie ich gerne hätte. Du bist ein Mix aus ihnen. Du beschäftigst dich mit Autos und allem was dazugehört, wie mein ältester Bruder. Bis aber genau so ein Arsch, wie er, wenn es um Frauen geht. Du interessierst dich für Technik und Computer, wie mein anderer Bruder, mein Lieblingsbruder. Kannst aber auch genauso faul und sturr sein, wie er. Und du hast helle Haare, grüne Augen und eine große Nase, die mich irgendwie an ihn erinnert. Verstehst du jetzt, warum ich mich für meine Gefühle schäme? Es ist, als wäre ich in eine nicht mit mir verwandte Version von meinen Brüdern verliebt. Als ich das bemerkt habe, war es schon zu spät. Ich war dir bereits verfallen.

Und jetzt nach dreieinhalb Jahren schreibe ich dir das alles, weil wir in wenigen Tagen getrennte Wege gehen werden. Nach sechs Jahren, in denen wir in einer Klasse gegangen sind, in denen ich dir deine Brille kaputt gemacht habe und ich wegen dir so einige Verletzungen hatte, werden wir uns nicht mehr fünf mal die Woche in der Schule sehen. Ich werde mein Abi machen und studieren und du wirst deine Ausbildung zum Industriemechaniker machen und arbeiten gehen. Das Einzige, das uns dann noch verbindet, ist unsere Adresse. Und obwohl du nur zwei Häuser von mir entfernt wohnst, sehen wir uns nicht. Höchstens auf dem jährlichen Straßenfest, zu dem du wahrscheinlich sowieso nicht kommen wirst. Jedes Wochenende bleibe ich lange wach und warte darauf, dass du einmal vor meinem Haus stehst. Vergeblich.

Ich kann mir vorstellen, dass diese Worte dich verwirren, aber das ist egal. Ich musste das nur loswerden. Lebe dein Leben und ich lebe meins.

In Liebe, Johanna ♥

15 Tage & 15 BriefeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt