Tag 3

967 88 7
                                    

Tag 3: an die Eltern

Liebe Ma, lieber Dad,

in letzter Zeit habt ihr wahrscheinlich bemerkt, dass ich sehr abwesend war. Ich hoffe, ihr habt es bemerkt. Ich war mir nämlich noch nie sicher was so was anging bei euch. Ihr habt nie wirklich den Eindruck gemacht, dass ihr euch für mich interessiert. Ich höre von meinen Freunden, dass sie gelobt werden, weil sie eine gute Note bekommen haben. Ihr sagt nicht wirklich was dazu und unterschreibt. Bei keiner einzigen 1 - von vielen, falls ihr euch erinnert - habe ich ein 'Ich bin stolz auf dich, Johanna' gehört. Selbst als ich in der fünften Klasse die zwei 5 in der deutsch mit nach Hause gebracht habe, habt ihr nichts gesagt. Ich habe keinen Anschiss, Hausarrest oder sonst ein Verbot bekommen. Ihr habt einfach weiter gemacht, als wäre nichts gewesen. Auch später, als ich ein paar Biologiearbeiten verhauen habe, kam nichts von euch. Höchstens ein Kopfschütteln. Aber als ihr vor zwei Jahren einen Brief von der Schule bekommen habt, weil ich dreimal meine Hausaufgaben nicht hatte, kam eine Reaktion von euch. Tja, ein 'Du solltest dir echt ein Hausaufgabenhelf kaufen.' bringt es nach so langer Zeit auch nicht mehr.

Das ist nicht die einzige Sache in der ihr bei der Erziehung versagt habt. Und ja, das meine ich so. Man kann euch nicht ernst nehmen. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, so richtigen Ärger bekommen zu haben. Nicht nur wegen schlechter Noten. Auch als ich die Brille einer meiner Klassenkameraden kaputt gemacht habe, kam von euch nichts. Warum nicht?! Anderen Eltern hätten einen angeschrien! Ich habe noch nie eine Strafe bekommen. Kein Hausarrest oder mal einen Schlag auf den Arsch. Ich bin zwar allgemein gegen Gewalt seinen Kindern gegenüber, aber angesichts dieser Tatsachen, wäre es vielleicht gar nicht so unpassend gewesen. Ich bin verzogen und das sage ich von mir selber. Das sollte schon was heißen. Ich kann mir so einiges erlauben und bekomme von euch lediglich ein Kopfschütteln und einen dummen Blick.

Nicht nur bei mir habt ihr versagt, sondern auch bei meinen Brüdern. Okay, Jan ist ja noch in Ordnung, auf seine Weise. Aber Jörn? No chance! Der Junge ist sturer, als du, Dad. Und das soll schon was heißen. Vergiss es mit der ernsten Nummer bei ihm, Dad. Das zieht bei uns allen nicht. Wir können dich einfach nicht ernst nehmen. Wenn du schon ein Ultimatum setzt, dann zieh es auch durch. Kein Wunder, dass er deinen Aufforderungen nicht folgt und kein Bock mehr auf dich hat. Ach ja, falls ihr euch fragt, warum ich mit euch so reden wie ich es tue - nicht sonderlich respektvoll -, das ist einfach nur ein Beweis dafür, wie ernst ich euch nehme. Gar nicht.

Aber jetzt erstmal weg von euren nicht vorhandenen Erziehungskünsten. Ich bin bei weitem bestimmt nicht das einzige Kind, das ständig sich fragt, warum sich seine Eltern nicht einfach trennen, wenn sie gemeinsam im Auto oder sonst wo sind. Ich habe keinen Lust mehr an einem Tisch, geschweige, denn in einem Raum mit euch beiden zu sein. Diese angespannte Stimmung geht mir voll auf meinen imaginären Sack. Nur eine Frage kann euch beide voll auf die Palme bringen. Das nervt tierisch! Bald nervt euch das Atmen des anderen noch! Ich wusste ja, dass Dad hitzköpfig sein kann, aber du auch, Ma? Das ist mir neu. Ich will bei besten Willen nicht, dass ihr euch trennt, aber könntet ihr euch nicht wenigstens aussprechen oder so, damit ich auch mal entspannt am Esstisch oder im Auto sitzen kann, ohne Kopfhörer?

Wo wir gerade eben schon bei hitzköpfig waren; ich liebe es ja sonst immer mit dir Auto zu fahren, Dad, aber so langsam macht es mir Angst. Okay, unser neues Auto ist schön und schnell, aber du musst es ja wohl nicht übertreiben, oder? Ganz ehrlich, ich habe manchmal so gar Angst um mein Leben. Ich habe gerade mal eine Sache auf meiner Bucket List erfüllt, ich will den Rest auch noch erleben. Ich hab echt das Gefühl, dass du in einer späten Midlife crises oder so bist. Ich kann verstehen, dass deine Arbeit anstrengend ist, mit alle den 'unfähigen' Angestellten, aber lass es irgendwie anders raus. Zum Beispiel in Sport, wie du mir letztens vorgeschlagen hat. Dabei bin ich alles andere als gestresst, nur als Info. Das wüsstest ihr auch, wenn ihr mal richtig mit mir reden würdet.

Das ist noch so ein Punkt, dass ihr euch nicht wirklich für mich interessiert; ihr habt keinen Schimmer, wie ich mich zur Zeit fühle. Jedes andere Elternteil würde nach einem schauen, wenn man mit Tränen in den Augen in sein Zimmer läuft und die Tür zuknallt. Ihr nicht. Okay, etwas Freiraum und Zeit ist ja nicht schlecht. Aber nicht mal schauen, wie es mir nach so einem Abgang geht? No go. Da bekommt man als Kind - oder besser gesagt: ich - das Gefühl nicht wichtig zu sein. So als ob ihr euch nicht um uns kümmert. Ich weiß, dass ihr das nicht so meint, allerdings zeigt ihr das nicht sonderlich gut. Das war übrigens auch ein Grund, warum ich mir in der sechsten Klasse mal über Selbstmord Gedanken gemacht habe. Ich hätte gerne gewusst, wie ihr damit umgegangen wärt. Wie gut, dass ich stattdessen einfach aufgehört habe, mir darüber Gedanken zu machen. Das war der Moment, in dem ich meine Fassade aufgebaut habe. Nach draußen hin mag es zwar so aussehen, als sei alles in Ordnung und ich zeige auch Gefühle, doch innen drin sieht es grausam aus. Das sieht nur keiner, weil ich mich in meinem Zimmer verkrieche und ihr kaum nach mir schaut oder fragt, was los ist. Aber hey, ich komme damit klar. Noch.

Mehr fällt mir nicht ein, was ich zu beanstanden hätte. Aber eine Sache gäbe es da noch. Trotz alle dieser vielen Punkte, die mir überhaupt nicht gefallen, seid ihr meine Eltern und das ist auch gut so.

Hab euch lieb, eure Johanna ♥

PS: Und jetzt auf zum Straßenfest!

15 Tage & 15 BriefeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt