6.Kapitel

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Der Regen prasselte wie so oft auf die Londoner Straßen. Es war Herbst geworden. Paul Southernwind - inzwischen 16 Jahre alt - hatte sich an die Arbeit im Palast gewöhnt. Im Laufe der Zeit hatte er gelernt, die Boshaftigkeit der Köchin zu ignorieren, die Verspottungen der anderen nicht ernstzunehmen und die Prügel, die er hin und wieder bezog, klaglos über sich ergehen zu lassen. Denn trotz der Schläge an seinem zweiten Tag, hatte Paul nicht damit aufgehört, die Bettler, die an die Hintertür klopften mit Essen zu versorgen, er hatte einfach nur gelernt, es so zu tun, dass Mrs Flint es nicht mitbekam - was meistens auch gelang. Ellis brauchte er nicht mehr zu fürchten, denn das Mädchen hatte eine große Zuneigung zu Paul entwickelt und obwohl er das wusste, konnte er Ellis den Verrat an seinem zweiten Tag nicht verzeihen.

Paul kam schlecht gelaunt und vollkommen durchnässt in der Schloßküche an. Auf Ellis' gut gelauntes "Guten Morgen, Paul!" reagierte er nicht sondern griff wortlos nach dem Wassereimer, um im Hof das Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, wie es jeden Morgen seine Aufgabe war. In die Küche zurückgekehrt, vom englischen Regen noch mehr durchnässt als vorher, begann er das Dienstbotenfrühstück vorzubereiten, denn auch das war seine tägliche Pflicht. Das Frühstück für Königin Katherine traute die Flinte niemandem zu, außer sich selbst, denn, wie sie immer zu sagen pflegte:

"Unserer Majestät kann man nur das Beste vom Besten servieren!",

und - davon war Mrs. Flint überzeugt - das Beste vom Besten konnte nur sie selbst bieten. Paul war also damit beschäftigt das harte, trockene und staubige Brot für die Dienerschaft zu schneiden, als es energisch an der Küchentür klopfte und der Kammerdiener James den Raum betrat. Alle Blicke richteten sich neugierig auf ihn, denn James ließ sich so gut wie nie in der Küche blicken, da er - wie er nicht müde wurde zu betonen, der Kammerdiener von George Villiers war.

"Paul Southernwind? Mitkommen!"

befahl er in einem herrischen Tonfall, der Mrs. Flint äußerst missfiel.

"Und warum bitte, wenn ich fragen darf, nimmst du ihn mit?",

fragte die Köchin süßlich, bereit, eine Fülle von Beschimpfungen auf den Kammerdiener loszulassen.

"Befehl Seiner Lordschaft, George Villiers!"

herrschte James sie ungeduldig an.

"Ah. Hmm."

,knurrte die Flinte enttäuscht, denn gegen den Duke war selbst sie machtlos . Also erlaubte sie James widerwillig, Paul mitzunehmen. Gleich nachdem sich die Küchentür hinter den beiden geschlossen hatte, fragte Paul, was der Duke von ihm wolle.

"Ich habe nicht die geringste Ahnung, was Seine Lordschaft mit einem wie dir will."

schnaubte James.

"Aber du wirst ihn auch erstmal nicht fragen können."

Mit diesen Worten öffnete er eine Tür. Es war die Tür, die ins Innere des Palastes führte, die Tür, die den Lebensraum der Dienstboten endgültig vom Lebensraum der Hofgesellschaft abtrennte und die Tür, vor der Paul schon so oft gestanden und sich gefragt hatte, wie es dahinter wohl aussehen würde. Und jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo er es erfahren würde. Es war noch prächtiger, größer und beeindruckender, als er es sich jemals hätte vorstellen können. Die Halle, in der er sich befand, war mit dunklem Holz getäfelt, das wiederum mit Goldintasien verziert war.Große, marmorne Säulen zierten den Saal und lenkten den Blick auf die mit verschlungenen Mustern bemalten Decken des Saales. An den Wänden hingen Gemälde, von allen Königinnen und Königen der englischen Geschichte, ein roter Teppich bedeckte den Boden, der von Licht aus großen Kristallleuchtern überflutet wurde. Paul sog diese ganze Pracht und Schönheit in sich ein, um es seinen Eltern später detailgetreu berichten zu können, denn niemand aus seiner Familie hatte jemals etwas Vergleichbares gesehen. Der Raum war gefüllt mit Dienern und Lakaien, die eifrig hin und her liefen. Diese Art des Personals bekam Paul nie zu Gesicht, außer den Lakai Alfred, der jeden Morgen mürrisch das Essen für die höhere Dienerschaft bei Paul abzuholen pflegte. Die Dienstboten schenkten dem schmutzigen Küchenjungen und dem hochnäsigen Kammerdiener keinerlei Beachtung, worüber Paul ganz froh war. Er bestaunte erneut den Raum, bis James ihn aus seinen Gedanken riss.

"Wie lange willst du hier denn noch rumstehen? Das ist nur die kleine Einganshalle, benimm dich doch nicht als wäre es der Thronsaal."

,stöhnte James auf. Paul verzichtete darauf, ihm zu erklären, dass "nur die kleine Einganshalle" der beeindruckendste Raum war, den er je gesehen hatte, weil er sich James' Reaktion darauf auch so lebhaft vorstellen konnte. Also folgte er dem Kammerdiener wortlos durch die Halle, durch drei weitere Gänge, über zwei Treppen in einen Raum, den James gelangweilt als "die kleine Bibliothek" verkündete. Paul trat ehrfürchtig ein. Diesen Raum als klein zu bezeichen, war mehr als eine Untertreibung. Meterlange Regale, angefüllt mit kostbar verzierten Büchern durchzogen den Raum. Leitern ermöglichten den Besuchern den Zutritt zu den weiter oben gelegenen Büchern und Schriftrollen. Paul betrachtete diese ganze Fülle an Wissen und Bildung mit einer Ehrfurcht, die er sonst selten für irgendetwas aufbringen konnte. Und in ihm wuchs der Wunsch, ja man könnte es als Verlangen beschreiben, diese ganzen Bücher zu studieren , das Wissen für immer in sich aufzunehmen. Und zum ersten Mal in seinem Leben, bereute er es, nicht lesen und schreiben zu können.

Ein leichtes Hüsteln ließ Paul herumfahren. Erst jetzt bemerkte er die kleine Gruppe, die um einen runden Mahagonitisch saß. Sie bestand aus drei Jungen, alle ähnlich gekleidet und ähnlichen Alters wie er selbst und einen Mann mittleren Alters mit einer Brille.

"Bist du Paul?"

fragte er mit einem freundlichen Lächeln. Paul nickte verschüchtert.

"Sehr schön.",

sagte der Mann.

"Dann können wir ja mit dem Unterricht beginnen!"


Der SpionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt