11. Kapitel - Jenseits

37 2 2
                                    

Ein Sonnenstrahl traf ihr Gesicht. Verschlafen blinzelte sie, als sie davon wach wurde. Sie gähnte und schaute auf ihren Wecker. "Verdammt." Sie war auf einen Schlag hell wach. Wie konnte das denn passieren, wie hatte sie verschlafen können? Egal, jetzt musste sie ihre morgendliche Routine abkürzen, um nicht doch noch zu spät zur Schule zu kommen. Rasch zog sie sich an, putzte ihre Zähne und schnappte sich anschließend ihre Schulsachen. Sie rannte die Treppen hinunter und zog sich im Flur eilig die Schuhe an. Sie lief schnell in die Küche und griff sich ein Brötchen, welches sie auf dem Weg essen würde. Für mehr blieb keine Zeit. Ihr Mittagessen würde sie sich in der großen Hofpause kaufen müssen. Sie ging zurück in den Flur, zog sich ihre Jacke an und auf dem Weg zur Tür schnappte sie sich ihre Tasche. Sie ging schnellen Schrittes zur Tür und schloss diese hastig hinter sich. Sie musste nur die Straße überqueren, um zur Bushaltestelle zu kommen. Als sie angekommen war, sah sie auf ihre Uhr. Der Bus kam in zwei Minuten. Sie atmete auf. Dann überprüfte sie, ob sie alles dabei hatte. Sie wurde panisch. Sie hatte wirklich ihr Busticket zuhause liegen lassen. Sie überlegte angestrengt. Wenn sie sich beeilte, würde sie es noch schnell holen gehen können und rechtzeitig zurück sein. Also rannte sie los. Sie achtete nicht auf den Verkehr und sah, während sie die Straße überquerte, abermals auf die Uhr. Und dann hörte sie ein lautes Hupen. Doch ehe sie reagieren konnte, erfasst das Auto sie und ihr wurde schwarz vor Augen.

Das nächste was sie wahr nahm, war grelles weißes Licht. Sie blinzelte mehrmals, damit ihre Augen sich besser daran gewöhnten.
"Ach wie schön, du bist wach.", begrüßte sie die freundlich klingende Stimme eines Mannes. Sie konnte ihn nicht sehen, doch schätzte sie ihn auf ein höheres Alter ein. Sie stand langsam auf und sah sich um. Doch der Mann war nirgends zu sehen, es umfing sie das klare Weiß. "Wo sind sie?", fragte sie ins Nichts. "Ich bin überall.", bekam sie die glucksende Antwort. Na super, was sollte das denn für ein Spiel werden? "Aber wenn du möchtest, kann ich gerne eine menschliche Gestalt annehmen." "Das wäre doch sehr zuvorkommend.", erwiderte sie ironisch. "Nun ist es so besser für dich?" Die Stimme erklang hinter ihr, weshalb sie sich umdrehte. Vor ihr stand ein Mann mit einem dunkelbraunen kurz geschnittenen Vollbart und kurzen Haaren von derselben Farbe. Er hatte Falten, die ihn jedoch standen, denn sie ließen ihn sympathischer wirken. Er überragte sie um etwa 10 cm. Jedoch war er nicht so alt, wie sie gedacht hatte. Noch etwas verwirrt antwortete sie: "Ja das ist besser. Aber sag mal, wo bin ich hier?" Frech wie sie war, nahm sie sich das Recht heraus, ihn zu duzen, jetzt wo sie ihn sehen konnte. Doch den Mann schien das nicht zu stören. "Du siehst noch etwas verwirrt aus, also werde ich versuchen, dir es so einfach wie möglich zu erklären. Zunächst einmal: Du bist tot. Das lässt sich auch nicht mehr ändern. Einzig und allein dein Bewusstsein lebt weiter, weshalb du auch mit mir hier reden kannst." Er sah sie konzentriert an, um zu schauen, wie sie reagieren würde. Sie blinzelte ein paar Mal und schien es noch nicht ganz verstanden zu haben. "Tot? Wie soll ich denn bitte gestorben sein, daran könnte ich mich doch erinnern.", sie lachte kurz auf. "Außerdem ist es doch gewiss nicht möglich, dass das Bewusstsein nach dem Tod weiter existiert, davon hätten doch Leute, die wiederbelebt worden sind, berichtet." Sie verschränkte die Arme und sah ihn herausfordernd an. Er seufzte. "Wie ich sehe, kannst du deinen Tod nicht so schnell akzeptieren, das verstehe ich. Es ist natürlich, dass die Erinnerung daran erst später zurückkehrt, hab noch etwas Geduld. Was die wiederbelebten Menschen betrifft: Sie waren nie komplett tot, deshalb konnten sie von dem allen hier", er machte eine Geste, die die komplette Umgebung umfasste, "nicht erzählen." "Okay...", war nur ihre ungläubige Antwort. Es herrschte einen Augenblick Stille. Dann schien ihr ein Gedanke zu kommen. "Alles klar, wo ist jetzt die versteckte Kamera? Ihr habt das schon ganz gut hinbekommen, mit der kompletten Weiße und dem plötzlichen Auftauchen deinerseits, aber ich hab es trotzdem durchschaut." Sie grinste siegessicher. Der Mann atmete tief durch. "Ich denke, es ist besser, wenn ich es dir zeige." Bevor sie ihn fragen konnte, was er ihr zeigen wolle, ergriff er ihre Hand. Sie hatte für einen kurzen Moment einen Schleier vor Augen, bevor sie wieder klar sah. Sie standen an der Bushaltestelle. "Wow, cooler Trick.", murmelte sie. Sie sah sich um. Hier stimmte etwas nicht. Wieso standen so viele Autos am Straßenrand? Es waren einige Polizeiautos wie auch Krankenwagen darunter. "Was ist da passiert?", fragte sie den Mann. Ihre Stimme zitterte etwas, denn sie ahnte schlimmes. "Sieh es dir selbst an.", bekam sie zur Antwort. "Du bist ja lustig, du siehst doch, dass dort alles abgesperrt ist." Der Mann zog eine Augenbraue hoch und ging auf die Unfallstelle zu. Anstatt das Absperrband zu heben, ging er einfach hindurch. Er drehte sich um und lächelte ihr auffordernd zu. Sie stand mit offenem Mund da und sah ihn an. "Nun komm schon." "Aber die Polizisten-" "Werden dich nicht sehen.", unterbrach er sie. Er winkte sie zu sich heran und zögerlich näherte sie sich ihm. Sie streckte die Hand nach dem Band aus. Anstatt sie es jedoch berührte, ging ihre Hand hindurch. Sie schreckte zurück und sah sich um, ob jemand das gesehen hatte. Doch keiner der Leute schien sich für sie zu interessieren. Also ging sie langsam durch das Band hindurch. Als sie es überwunden hatte, atmete sie aus und sah ihn an. Er lächelte ihr immer noch zu und deutete ihr, ihm zu folgen. Sie gingen näher an den Unfallort heran. Hier war überall Blut zu sehen und ein Auto, welches leichte Dellen am Buck hatte. Um die größte Blutlache herum waren einige Sanitäter, welche sich zu einer am Boden liegenden Person beugten. Neugierig, wer die Person war, ging sie näher heran und schreckte entsetzt zurück, als der Körper auf eine Liege gehoben wurde und sie somit das Gesicht sehen konnte. Sie sah sich selbst. Verstört drehte sie sich weg. "Ich weiß, es ist schwer sich selbst tot zu sehen Agnes. Aber du dürftest dich jetzt auch wieder erinnern können, nicht wahr?" Der Mann legte ihr eine Hand auf die Schulter und sah sie mitleidig an. Ja sie konnte sich wieder erinnern. Sie hatte ihr Ticket vergessen und war nach Hause zurück gerannt. Sie hatte nicht auf die Straße geachtet und wurde sofort dafür bestraft. Sie schluchzte auf und hielt sich die Hand vor den Mund. Wieso war sie nur so unachtsam gewesen? Dann kam ihr ein Gedanke und sie sah sich um. "Aber meine Eltern..." Sie erkannte sie in der Menge, die auf der anderen Straßenseite stand. Sie rannte zu ihnen, ohne auf das Absperrband zu achten. Sie wollte sie umarmen, als sie sie so in Tränen aufgelöst da stehen sah, doch stattdessen umarmte sie die Luft. Sie griff in die Leere und ihr kamen die Tränen. "Mama, Papa ich bin doch hier. Wieso seht ihr mich nicht?" Doch ihre Eltern reagierten nicht, sondern starrten weiter zu dem Unfall. "Wieso nur... Sie hatte doch ihr ganzes Leben noch vor sich...", schluchzte ihre Mutter. Dann spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. "Ich verstehe dass es schwer für dich ist, deine Eltern so zu sehen. Du wirst noch viele Menschen so sehen, auch einige von denen du es nicht erwartet hättest." "Ach was weißt du schon. Du kennst mich und mein Leben doch gar nicht." "Oh ich kenne dich besser als du denkst." "Ach ja? Bist du irgend so ein komischer Stalker? Gott? Der Teufel? Von der Regierung?", schrie sie ihn an. Er sah sie überlegend an. "Ja viele Leute nennen mich so. Gott. Eigentlich bin ich viel mehr als nur das, aber das spielt jetzt keine Rolle, ich-" Er wurde von ihrem Lachen unterbrochen. "Du bist Gott ja? Ich glaube nicht an dich, ich bin Atheistin. Aber selbst wenn, es wird immer davon gesprochen, dass du ein gütiger Gott bist, nur das Gute für die Menschen willst und so weiter. Also wieso musste ich dann", sie schluckte kurz, "sterben? Habe ich zu viel schlechtes Karma gesammelt?", sie sprach den letzten Satz verächtlich aus. Der Mann sah an ihr vorbei und war für einen Augenblick in Gedanken versunken, bevor er ihr antwortete. "Das hat nichts mit Karma zu tun. Hierbei geht es nicht um dich im speziellen. Dein Tod löst einige Ereignisse aus. Und diese sind im Endeffekt bedeutend für die gesamte Menschheit, damit sie sich nicht selbst vernichtet." "Ganz nach dem Motto, das Wohle vieler wiegt schwerer als das von einzelnen ja? Dann würde ich aber gerne wissen, welche ach so bedeutenden Hebel ich in Bewegung setzte." Sie sah ihn wütend und herausfordernd an. Er seufzte. "Das wirst du sehen, wenn es an der Zeit ist. Jetzt müssen wir erst einmal weiter." Ohne ihre Antwort ab zu warten, ergriff er abermals ihre Hand. Zum zweiten Mal hatte sie einen Schleier vor Augen und sah anschließend wieder klar. Sie sah sich verwirrt um. Sie standen auf ihrem Schulhof und es war gerade große Pause. Sie waren bei ihrem Freundeskreis. "Wieso sind wir-" "Sei ruhig und höre zu.", unterbrach er sie. Sie beobachtete, wie ihre Freunde über einen Witz von ihrer besten Freundin lachten, als ihr Handy klingelte. Sie ging immer noch etwas lachend ran. "Ja hier ist Maja. Ach hallo sie sind es Frau Sanne, was ist denn los?" Und dann war sie still. Ihr Gesichtsausdruck wurde immer trauriger, bis sie schließlich anfing zu weinen. "Okay... Danke... f-für i-ihren Anruf. Bis d-dann." Sie legte auf, während die anderen sie besorgt an sahen. "Was ist denn passiert?", wollte Sarah, eine andere ihrer Freundinnen, wissen. "Agnes... Sie ist... i-i-in einem Autounfall... gestorben." Dann fing sie an, unkontrolliert zu schluchzen, weshalb sie von Sarah in den Arm genommen und getröstet wurde. Doch auch ihr kamen die Tränen. "Achte auch auf die Anderen.", flüsterte der Mann Agnes ins Ohr und sie schreckte kurz auf. Sie sah sich den Rest der Menschen an. Die beiden anderen Mädchen, die noch da standen, schien es nicht so schlimm getroffen zu haben, sie schauten nur bedrückt drein. Mehr hatte Agnes auch nicht erwartet. Ihr bester Freund Jack kämpfte mit den Tränen, doch sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er nicht vor anderen Menschen weinen würde. Und dann war da noch William. Sie war schon seit einiger Zeit in ihn verliebt, doch war sie der Meinung, dass das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Doch auch er schien mit sich zu kämpfen. Er verabschiedete sich kurz von Jack und ging dann mit keinem weiteren Wort. "Folg ihm.", sagte der Mann zu ihr. Ohne darüber nach zudenken, tat sie es. William ging in das Schulgebäude und nahm den Weg zur Abstellkammer. Agnes kannte diesen Raum, denn hier hatten sie sich schon einige Male vor den Lehrern versteckt, wenn es draußen zu kalt war, sie aber eigentlich noch nicht ins Haus rein durften. William saß in einer Ecke des Raumes auf einem Hocker. Er hatte sein Gesicht in seinen Händen vergraben und schluchzte leise. Sie war etwas überrascht. Sie hatte nicht gedacht, dass sie ihm so am Herzen gelegen hatte und doch freute es sie auf eine merkwürdige Art und Weise. Dann nahm William plötzlich einen Brief aus seiner Jackentasche. Der Briefumschlag hatte keine einzige Falte und war in einem unbefleckten weiß. Eine rote Schleife umfasste ihn, die William nun mit zitternden Händen löste. Er ließ das Band achtlos fallen und öffnete vorsichtig den Umschlag. Neugierig, was in dem Brief stehen würde, stellte sich Agnes hinter ihn und sah ihm über die Schulter. Und dann fing sie abermals an zu weinen. William hatte in einer für ihn eher ungewohnten sehr ordentlichen Handschrift eine Liebeserklärung an sie verfasst. Sie war von ihren Gefühlen überwältigt. Warum musste sie ausgerechnet heute sterben? Wieso hatte er ihr den Brief nicht gestern schon geschrieben? Sie war so traurig. Seit langer Zeit waren sie beide ineinander verliebt gewesen ohne das Wissen des Anderen und nun mussten sie getrennt werden, ohne eine glückliche Zeit vorher miteinander verbracht zu haben. Es war so unfair! Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, als William auf einmal anfing zu sprechen. "Agnes falls...falls du mich hören kannst. Ich liebe dich. Du bist das wunderschönste und witzigste Mädchen, was ich je getroffen habe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen besseren Menschen als dich gibt. Ich habe dich jede Sekunde, die wir nicht miteinander verbracht haben, vermisst und ich vermisse dich jetzt gerade auch so schrecklich. Wieso nur? Wieso habe ich es dir nicht schon früher gesagt? Ich wünschte, ich könnte dir noch so viel sagen, ich...", er brach ab. Sie war bei seinen Worten zu Boden gesunken und ihr rannen Tränen über die Augen. Doch sie wurde von dem Mann gestört, der durch die Tür kam. Mit neuer Energie sprang sie auf und ging wütend auf ihn zu. "DU!", schrie sie ihn an, während sie auf ihn ein boxte. "Wieso hast du das getan? Wieso?" Er ergriff ihre Handgelenke und versuchte sie zu beruhigen. Als sie einigermaßen wieder normal Luft holte, begann er zu sprechen. "Es musste passieren Agnes. Sie alle, deine Eltern, deine Freunde, Personen die dich einfach nur mochten, sie müssen um dich trauern. Der Verlust eines geliebten Menschen verändert einen. Und dies führt zu den von mir erwähnten Ereignissen vorhin. Es hat alles einen Sinn, auch wenn das für dich nicht hilfreich ist. Es muss dich schmerzen, zu sehen, wie sie alle wegen dir Leiden. Es wird später noch einmal schlimmer werden, wenn du siehst, wie sie beginnen, ihr Leben ohne dich zu leben. Es wird so wirken, als würden sie dich langsam vergessen. Doch glaub mir, keiner dieser Menschen wird dich je vergessen. Wer dich einmal geliebt hat, wird dich sein Leben lang bei sich haben. Und du kannst über sie wachen und aufpassen, dass ihnen nichts passiert." Er sah sie aufmunternd an, in der Hoffnung, sie würde sich nun beruhigen. Doch das Gegenteil war der Fall. Sie schlug seine Hände weg, trat einen Schritt zurück und sah ihn angewidert an. "Deine Worte sind so tief verletzend und gleichzeitig so ohne Mitgefühl. Bist du sicher, dass du Gott und nicht der Teufel bist?" Sie sah ihn herausfordernd an. Einen Augenblick lang reagierte der Mann nicht. Dann fing er an zu lächeln bis er schließlich grinste.

KurzgeschichtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt