Prolog

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So spät, dass Harry unsanft aus seinem mehr als benötigten Schlaf gerissen wird, klopft es kraftvoll an der Tür zu seinem Atelier. Verwirrt blinzelt er mehrere Male hintereinander und richtet sich auf der Chaiselongue auf. Er reibt sich über die Augen und streicht sich die braunen Locken aus dem Gesicht, bevor er mit einem Ruck aufsteht, die nackten Füße kommen in Berührung mit dem kalten Holzboden, der unter jedem seiner Schritte knarzt.

Durch das erneute Klopfen gedrängt, beschleunigt der Mann, bis er schließlich den Schlüssel aus eisigen Messing im Schloss umdreht, um die goldene Türklinke hinunterdrücken zu können. Mit einem Schwung lüftet er das Geheimnis um die Person, die seine Nachtruhe stört.

„Ich denke, dass Sie sich in der Hausnummer geirrt haben", murmelt Harry mit tiefer, kratziger Stimme, geprägt durch den vor einer Minute beendeten Schlaf. Er verdreht die Augen und greift nach der Kante der Tür, um diese kräftig zustoßen zu können.

Sofort hält ein schmaler Fuß das Holzbrett davon ab, mit einem lauten Knall in seinen Rahmen fallen zu können. Die Frau tritt in das Licht der Gaslampe, die noch immer rechts neben dem Eingang innerhalb der Räumlichkeit brennt. Ihre dicken Augenbrauen sind zusammengezogen, wodurch sich tiefe Falten in der Haut zwischen ihnen bilden. Minimal kneift sie die Augen, strahlend wie kaltes, graues Gestein, zusammen und raunt: „Ich denke, dass Sie Harry Styles sind."

„Damit liegen Sie nun doch richtig", stimmt der Mann ihr zu. Während er die Arme verschränkt, lehnt er sich gegen den Türrahmen. „Was will solch eine edle Dame bei fortgeschrittener Stunde in einem Bezirk wie diesem? London ist nicht sicher für Frauen."

„Zwar schätze ich Ihre Sorge um meine Wenigkeit, doch ich bin mir sämtlichen Gefahren bewusst", wehrt die Unbekannte ab und ahmt seine Haltung nach, von ihrer rechten Hand hängt ein geschlossener Regenschirm herab. Sie leckt sich über die volle Unterlippe und zieht eine Augenbraue nach oben.

„Nun denn, wollen Sie mich nicht in ihre künstlerische Stätte bitten?"

Mit einer übertriebenen Geste lädt Harry sie in das schmale Haus inmitten einer ganzen Reihe von identisch aussehenden Gebäuden ein. Er wischt sich beide Hände an der braunen Hose aus dünnem Stoff ab, bevor er die rechte in ihre Richtung streckt. „Sie mögen zwar bereits meinen Namen wissen, doch ich würde auch Ihren gerne kennenlernen", stellt er fest, woraufhin sie sich nach einigen Schritten zu ihm umdreht.

„Carolina Henson, es freut mich, mit einem Künstler wie Sie es sind, Bekanntschaft zu machen", befolgt die Frau Harrys Aufforderung und umfasst seine Finger sanft mit ihren, nur wenige Sekunden vergehen, bis sie sich von ihm löst.

Erneut wendet sie sich von ihm ab, um die Räumlichkeiten zu begutachten. Abgesehen von dem Holzboden, der bei jeder Bewegung knarzt und mit hoher Wahrscheinlichkeit morsch ist, gibt auch die schmutzige, ursprünglich weiße Wand Carolina ein Gefühl der unpassenden Erscheinung. Denn inmitten des schäbigen Ateliers befindet sie sich, mit teurer Kleidung, maßgeschneidert und geschmückt mit exklusiven Stoffen.

Von der verputzten Mauer ist nicht mehr viel zu sehen, zahlreiche Bilderrahmen verdecken sie. Die golden glänzende Farbe auf den hölzernen Einfassungen ist bereits zum Großteil abgesplittert. Teils unvollendete Gemälde, teils komplett leere Leinwände sind in ihnen eingefasst. Unter zahlreichen, schlichten Leintüchern ist ein ganzer Stapel, höher als die Frau es ist, versteckt, der in ihrer Annahme aus fertigen Malereien besteht.

In der Mitte des Raumes befindet sich eine große Staffelei, auf der rein weißes Papier platziert wurde, dünne Linien sind auf diesem bereits zu erkennen. Um das Holzgestell herum stehen kleine Tische und Hocker verteilt, sie alle haben gemeinsam, dass sie überfüllt sind. Paletten mit getrockneter Farbe, unzählige Pinsel und Stifte, scheinbar wahllose Zeitungsausschnitte sowie in Leder gebundene Bücher besetzen die Flächen.

Durch ein Räuspern macht Harry schließlich wieder auf sich aufmerksam. Beinahe erschrocken wirbelt Carolina herum, fasst sich ans Herz. „Womit verdiene ich die Präsenz einer solch reichen Dame?", fragt er mit gespielter Arroganz.

Allein die Anwesenheit einer Frau, so umspielt mit Gerüchten und Tuscheleien in den Straßen Londons, lässt ihn unwohl fühlen. Ein schweres Schlucken schnürt ihm beinahe die Kehle zu, als sie sich ihm einen Schritt nähert und ihn herausfordert: „Erzählen Sie mir doch von ihrer Zeit in Frankreich. Nebenbei können Sie darauf verzichten, mich mit Lügen zu langweilen. Ich möchte lediglich die Wahrheit noch einmal aus ihrem Mund hören."

„Ich habe Frauen portraitiert", gibt der Mann zu und blickt beschämt zu Boden. Seine Wangen glühen durch die Hitze, die sein Gesicht emporsteigt. Das altbekannte Knarzen des Fußbodens dringt in seine Ohren und deutet ihm, dass Carolina sich von ihm entfernt.

Er räuspert sich und sieht auf, auf der Suche nach der Dame, bevor er hinzufügt: „Frauen, die keine Kleidung trugen." „Der Gedanke an diese Malereien kann ziemlich erotisch sein, finden Sie nicht?", fragt sie, kann den spottenden Ton in der Stimme nicht verbergen.

Im spärlichen Licht der wenigen Gaslampen erkennt Harry, wie sie an der Fensterfront, verdeckt von einem dunkelroten, schweren Vorhang, vorbeischreitet, direkt auf das einzige Möbelstück in dem Atelier – eine Chaiselongue. Der Rahmen aus dunklem Holz des schmalen Sofas mit lediglich einer seitlichen sowie einer Lehne der Länge nach, wird von ihren Fingerspitzen berührt.

„Wieso haben Sie die nackten Körper hinter sich gelassen?", will Carolina wissen und bleibt am Kopfende des Einrichtungsgegenstandes stehen. Sie dreht sich zur Gänze zu dem Mann, dessen Blick auf den hellgrünen Samt und den darin eingearbeiteten, goldenen Stickereien, die die Polster des Möbelstücks schmücken, haften bleibt.

„Die Malerei hat mich zu Sachen verleitet, die ich aus meinem Leben verbannen wollte", antwortet Harry wahrheitsgemäß.

Zeitgleich setzt sich die Frau wieder in Bewegung, vorbei an der Porzellanvase, in der zehn rote Rose aufbewahrt sind. Sie schiebt die größere Unterlippe über die schmälere obere, bevor sie murmelt: „Was müsste ich Ihnen geben, um Ihre Einstellung zu ändern?" „Mein Wille ist unbezahlbar, Madame Henson", kontert der Mann und reckt das Kinn trotzend in die Höhe.

Noch immer anmutig schreitend wie Queen Victoria höchstpersönlich kommt Carolina auf ihn zu und bevor er sich versieht, befindet sie sich nur einen Schritt von ihm entfernt. Sie legt minimal den Kopf in den Nacken, um Harry eindringlich in die Augen sehen zu können. Noch während er das Blut in seinen Ohren rauschen hören kann, redet sie mit leiser Stimme auf ihn ein: „Doch ich besitze die nötigen finanziellen Mittel, um Ihr Talent fördern. Sie könnten der Richard Wagner der Malerei werden"

„Dazu bräuchte ich eine persönliche Mathilde Wesendonck, eine eigene Muse", stellt der Mann fest und stemmt die Hände in die Hüften.

Carolina tritt noch näher an ihn heran, sodass der dicke Stoff ihres braunen Mantels auf sein dünnes, weißes Hemd trifft. Auf Zehenspitzen beugt sie sich zu seinen Lippen, die schlussendlich beinahe ihre berühren. Sie legt die schmalen Hände auf seiner Brust ab und haucht:

„Dann lassen Sie mich Ihre Muse werden. Malen Sie mich wie eine Ihrer französischen Mädchen."

French Girls / h.sWhere stories live. Discover now