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"Helle Nacht"

Schwungvoll öffnet sich die Tür in das Haus, Harrys Blick hebt sich blitzschnell von der aus grauen Ziegelsteinen bestehenden Mauer links neben dem Eingang. Das verschmitzte Schmunzeln auf ihren Lippen fällt ihm in dem Moment, in dem er sie ansieht, auf, ihre Arme sind in einander verschränkt und sie hat ihr Gewicht auf das rechte Bein verlagert.

„Erklären Sie mir bitte, weshalb ich eine gewisse Vorahnung bezüglich Ihres Besuches hatte", begrüßt Carolina den Mann. Sie wirft dem zart gebauten Butler hinter ihrem Rücken einen flüchtigen Blick zu, mit dem sie ihm sein Verschwinden befiehlt. „Weiters können Sie gerne das Haus betreten, die kalte Luft ist unausstehlich."

„Eigentlich", wendet Harry ein, „wollte ich Sie überreden, mir, einem beinahe Fremden, zu vertrauen und sich mit mir auf den Weg zu meinem Atelier zu begeben. Der Drang, meiner potentiellen Muße ein weiteres Portrait zu schenken, ist unausstehlich."

Carolina hält sich den linken Handrücken vor ihren Mund, wodurch das Kichern, das diesem entflieht, gedämpft wird. Ihre Augen werden von zarten Lachfalten umrahmt und sie senkt ihren Arm wieder, als schließlich auch Worte ihre Lippen passieren: „Nur zu gerne würde ich Ihren Drang stillen, doch ich besitze nicht die Freiheit -"

„Ohne Ihnen Nahe zu treten, Ihr Mann befindet sich in einer Bar, ihm würde Ihr Verschwinden nicht auffallen", unterbricht der Maler sie, muss feststellen, wie sich der Gesichtsausdruck der Frau wie durch einen Schlag verfinstert.

„Sie denken, das wäre mir nicht bewusst", haucht Carolina, „Sich in dieser Kneipe das Leben heiter zu trinken ist das Einzige, wozu er zu gebrauchen ist."

Von ihren eigenen Worten erschrocken schlägt sie sich die linke Hand über den Mund. Ihre Augen weit aufgerissen blickt sie ängstlich um sich, bis sie nahezu unverständlich nuschelt: „Ihnen ist niemals zu Ohren gekommen, dass ich so etwas gesagt habe. Ich flehe Sie an."

„Sorgen Sie sich nicht, ich habe dies heute bereits miterlebt", versichert Harry ihr und schenkt ihr ein heiteres Lächeln, das seine Zähne entblößt.

Erleichtert lässt die Frau die Hand schlaff fallen und strafft ihren Rücken. Die weiße, bodenlange Robe verhüllt ihren Körper zur Gänze, lediglich ihre nackten Füße sind zu sehen. Ein kalter Schauer lässt sie erzittern, die frische Luft macht sich erneut bemerkbar.

„Ich kann trotz alledem nicht mein Haus verlassen", lehnt Carolina ab, die Hoffnung in Harrys Augen erlischt augenblicklich.

Sie hebt den rechten Arm, deutet den Zeigefinger gegen die Decke über ihrem Kopf und setzt fort: „Zumindest noch nicht jetzt. Ich müsste lediglich warten, bis mein Mann betrunken durch den Türrahmen stolpert und in den Tiefschlaf fällt, falls ich mich dazu entschließe, Ihnen zu vertrauen."

„Danach würden Sie sich wahrhaftig auf mein Angebot einlassen?", hinterfragt der Maler, Freude durchfährt seinen ganzen Körper. Seine Schultern straffen sich und er spürt bereits das Kribbeln in seinen Fingern, das nur danach verlangt, einen Pinsel in die Hand zu nehmen, als sein Gegenüber langsam, nachdenklich zustimmend nickt.

Überraschend streckt Carolina die linke Hand nach ihm aus, mit ihrem drängenden Blick versucht sie, ihm verständlich zu machen, dass er ihre Finger mit seinen umfassen soll. Nach einigen Momenten, die er sie mit zusammengezogenen Augenbrauen ansieht, geht er ihrer wortlosen Aufforderung nach und wird ohne Widerstand seinerseits in das Haus gezogen.

„Niemals könnte ich verantworten, dass Sie in der eisigen Nacht auf mich warten müssen", erklärt die Frau und marschiert zielstrebig durch die Villa, die viel zu schnell an Harry vorbeizieht, sodass er nicht die Möglichkeit hat, die Eindrücke von teuren Möbelstücken und edlen Marmorböden in sich aufzunehmen.

French Girls / h.sWhere stories live. Discover now