French Girls / h.s

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„Alte Freundschaft"

„Wodurch besitze ich die Ehre, Sie hier anzutreffen?", löst eine Stimme Carolina aus ihrer Starre. Wie lange sie in dieser vor der verschlossenen Tür ihres Bruders verharrt hat, kann sie nicht einschätzen, zu tief war sie versunken in den Gedanken an ihre Familie und wie diese in die Brüche gegangen ist.

Erschrocken zuckt sie zusammen und blinzelt mehrere Male, bevor sie den Mann, der sich wenige Schritte von ihr entfernt befindet, identifizieren kann. Alleinig das verschmitzte Lächeln auf seinen geschwungenen Lippen benötigt es für sie zu sehen, um unsicher die Augenbrauen zusammenzuziehen und verwirrt zu hinterfragen: „Ich sollte eher von Ihnen eine Antwort bezüglich Ihrer Anwesenheit hier vor diesem Haus erwarten."

„Nun gut, ich schätze, dass Sie zuerst meine Erklärung erwarten", gibt Harry sanft lachend nach und hebt die Hände abwehrend links und rechts neben seinen Kopf, „ich besuche einen guten Freund, der mit mir nach London gereist ist."

„Einen guten Freund", haucht Carolina ungläubig und wirft einen flüchtigen Blick auf die verschlossene Tür hinter ihrem Rücken. Die Worte ihres Bruders hallen weiterhin in ihrem Kopf, wiederholen sich wie ein Mantra, das er ihr einprägen wollte. Vor ihr steht die vermeintliche Geldquelle, die Person, die Cillian ursprünglich verhelfen sollte, als Cyril Milner zurückkehren zu können.

Doch der Maler steht in mit Farbklecksen verschmutzten Hosen vor ihr, das ursprünglich weiße Hemd scheint die letzten Male lediglich in einem Eimer voller reinem Wasser gewaschen worden zu sein. Auch seine Schuhe ist teils mit getrocknetem Schlamm bedeckt, die minimalst gepflegten Gassen, die seinen Wohnort umgeben, haben ihre Spuren hinterlassen. Ein Schauer läuft über Harrys Rücken, der Mantel, der ihn warm halten sollte, schützt ihn vor keinem Windstoß, der durch die Straßen Londons zieht.

„Kennen Sie Sir Cillian Murphy persönlich? Er ist zur gleichen Zeit wie ich hierhergezogen", hinterfragt er, bevor ihm ihr Starren noch unangenehmer werden kann.

Der kalte Blick ihrer grauen Augen wendet sich schlagartig seinem Gesicht zu und sie nickt langsam bestätigend. Carolina räuspert sich leise und mit vorgehaltener Hand, ehe sie ihrem Gegenüber antwortet: „In dieser Nachbarschaft ist es üblich, Bekanntschaft mit jeder hier wohnenden Familie zu machen. Ich habe soeben Ihren ... guten Freund zu einem ... Dinner eingeladen."

„Ich nehme an, dass diese Art von Zusammenkunft für die gehobenere Gesellschaft üblich ist", spricht Harry seine Gedanken laut aus und verlagert sein gesamtes Gewicht auf das rechte Bein, die Hände lässt er in den beiden Taschen auf der Vorderseite seines Mantels verschwinden.

Zustimmend nickt die Frau stumm und wendet den Blick von ihrem Gegenüber ab, die Stimme ihres Bruders prägt weiterhin ihre Gedankengänge. Ein Räuspern lässt sie nach einigen Momenten des Schweigens erneut aufsehen und nur wenig später fügt Harry hinzu: „Nun denn, ich möchte Sie nicht weiterhin aufhalten, Sie haben bestimmt einen stresserfüllten Tag vor sich. Falls Sie jedoch morgen Zeit haben, vormittags meinem Atelier einen Besuch abzustatten, wäre ich bereit, ein etwas waghalsigeres Gemälde zu beginnen."

„Ein Versprechen, dass ich kommen werde, kann ich Ihnen hier und jetzt nicht geben, ich muss selbstverständlich erst meine hausfraulichen Tätigkeiten sowie meine Langeweile so arrangieren, dass ich ohne jegliche Hektik meiner Nebenbeschäftigung als Modell nachgehen kann", neckt Carolina ihn spielerisch, der Sarkasmus trieft förmlich aus ihrem Mund. Ihre Lippen verziehen sich zu einem symmetrischen, sympathisch wirkenden Lächeln, bevor sie, als hätten sie es geplant, mit dem Maler die Plätze tauscht, sodass sich dieser nun näher an Cillians Eingangstür befindet.

„Bis hoffentlich sehr bald, Madame Henson", verabschiedet Harry sich von ihr, als er bemerkt, dass sie langsam zwei Schritte zurückweicht. Leise murmelnd ahmt sie seinen Gruß nach und wendet sich anschließend, den Blick starr auf den Boden gerichtet, von ihm ab.