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"Bezahlung eines Obdachlosen "

Ganze vierundzwanzig Stunden fühlen sich die Ohrringe in Harrys Hosentasche schwerer an, als sie eigentlich sind. An den teuren Schmuckstücken hängt auch Carolinas Präsenz, dessen Gewicht scheint, ihn auf den knarzenden Boden in seinem Atelier drücken zu wollen. Ihr Geruch hat sich in jeder einzelnen Faser der Chaiselongue festgesetzt, die ihm diese eine Nacht als Schlafplatz dient. Ein zarter Hauch von Vanille, dessen Aroma der Maler erst ein einziges Mal in seinem Leben erleben durfte, damals in Paris, sowie der lebhafte Duft einer Frucht, deren Name ihm nicht einfallen will, erfüllt seine Lungen bei jedem seiner regelmäßigen Atemzüge.

Nachdem er seine Beine ausgestreckt hat, seinen Rücken schmerzvoll von der zusammengekauerten Schlafposition befreit hat, mehrere Male ausgiebig gegähnt hat. Nachdem er als Frühstück und zugleich Mittagessen, da ihn seine von Carolina geprägten Träume zu lange gefangen gehalten haben, ein Viertel des Brotlaibes verschlungen hat und die trockenen Krümel mit zwei Gläsern Wasser hinuntergespült hat. Erst danach beschließt Harry, das Haus zu verlassen, seinen Gewinn in bares Geld einzulösen.

Sein Mantel, eines der wenigen Kleidungsstücke, die es den ganzen Weg von Paris nach London überlebt haben, schützt ihn vor dem Wind des Frühlings, der langsam, nach und nach die Blätter auf den Bäumen wachsen und die Stadt erblühen lässt. Der warme Kragen schützt aufgestellt seine Ohren und seine zwei um den Oberkörper geschlungenen Arme halten den dicken Stoff dicht an seinem dünnen Hemd. Durch die Schuhe des Malers zieht bei jedem einzelnen Schritt, der ihn weiter von seinem Haus wegträgt und näher an den Schmuckhändler heranbringt, entlang der Haut seiner Füße ein Hauch der kühlen Luft.

Schließlich, nach unzähligen Kreuzungen, nach mehreren noblen Kutschen, die ihn beinahe mit Dreck bespritzt hätten, gelangt Harry an sein Ziel. Drei Bögen, nur wenige Zentimeter höher als der Mann, mit Glas ausgekleidet und durch geschwungene Gitter vor unerwünschten Dieben geschützt, bieten ihm einen ersten Blick in die Räumlichkeiten, befüllt mit Gold, Silber und Edelsteinen, allesamt sorgfältig in Vitrinen aufbewahrt.

Durch die Tür, rechts neben den Fenstern, betritt der Maler das Geschäft, seine schmutzigen Schuhe hinterlassen zarte Spuren auf dem polierten Steinboden. Augenblicklich umhüllt ihn die wohlige Wärme, die seine durch die kühle Luft leicht geröteten Wangen umschmeichelt und ihn dazu veranlasst, die verschränkten Arme von einander zu lösen, sodass sie nun schlaff an seinem Körper herabhängen.

Der Juwelier, gekleidet in schwarzen und weißen Stoffen ähnlich Satin, hebt in dem Moment, in dem er die Tür wieder ins Schloss fallen hört, seinen Blick von einem kleinen Büchlein voller mit der Hand geschriebenen Zahlen und Wörtern. Seine Augen, das rechte hinter einem Monokel versteckt, weiten sich bei dem Anblick eines ärmlich gekleideten Mannes in seinem so noblen, anerkannten Geschäft und er schlägt beide Handflächen sanft auf die gläserne Vitrine, die die untere Hälfte seines Körpers verdeckt.

„Sie müssen sich in der Hausnummer oder in der Straße geirrt haben. Hier gibt es keine Räumlichkeiten für Obdachlose", teilt der Juwelier deutlich und laut, lauter als nötig, mit und lässt die eingefasste Linse an einem goldenen Kettchen an seinem Oberkörper herabhängen. Die linke Hand hebt er von der Glasplatte ab, um Harry mit einer Geste zu verdeutlichen, dass er hier nicht willkommen ist.

Doch der Maler lässt sich in seinem Vorhaben nicht beirren, verdreht genervt von der Oberflächlichkeit seines Gegenübers die Augen. Absichtlich lässt er die schmutzigen Schuhsohlen über den Boden schleifen auf dem Weg zu dem überheblichen Mann.

Bereits während seine Beine ihn zu der Vitrine tragen, holt er Carolinas Ohrringe aus seiner Hosentasche und kontert: „Ich würde nur zu gerne erwidern, dass ich mir mein Geld auch bei einem anderen Juwelier holen kann, doch leider sind Sie der Einzige, den ich zu Fuß erreichen kann."

French Girls / h.sWhere stories live. Discover now