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"Unvollendet"

Die Neugier funkelt in Carolinas Augen, als sie sich von ihrem weich gepolsterten Sitzplatz erhebt, um auf die Staffelei zugehen zu können. Sie sieht, wie sich der Mann vor ihr ausgiebig streckt, die Fingerspitzen empor gestreckt zeigen auf die brüchige Decke über ihren Köpfen. Seine Hände sind gefleckt, aus Versehen angemalt mit den verschiedensten Farben und sein Gesicht ist leicht gerötet, als wäre er so schnell ihn die Beine tragen können aus einer Taverne spät abends geflüchtet.

Harry leckt sich, wie es für die Frau erscheint, zum hundertsten Mal über die Lippen und streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Einige Male ballt er die Hände zu Fäusten, nur, um sie eine Sekunde später wieder zu entspannen. Sein Blick wendet sich ihr zu, unwillkürlich wandert er tiefer, wodurch er nicht mehr in ihre grauen Augen sieht.

Das tief ausgeschnittene Dekolleté zieht die Aufmerksamkeit des Malers auf sich und da sich seine Augen förmlich in ihre blasse Haut einbrennen, hebt Carolina die linke Hand. Ihre Fingerspitzen streichen über die Schlüsselbeine, die sanft hervorgehoben sind, bevor sie die Handfläche benützt, um sich von seinem Blick zu schützen.

Als hätte sie Harry geschlagen, zuckt er zusammen, seine Wangen färben sich ertappt eine Nuance röter. Die Scham lässt ihn das Gesicht abwenden und er umfasst mit beiden Händen die nicht mehr weiße Leinwand jeweils an der linken und rechten Kante. Mit einem Ruck erhebt der Mann sie von der Staffelei, bedacht auf die feuchte Farbe, die droht, sein für seine Verhältnisse sauberes Hemd zu beschmutzen.

"Dürfte ich das Gemälde sehen?", meldet Carolina sich zu Wort, als sie wortlos und unsanft von dem Maler zur Seite geschoben wird. Perplex starrt sie auf seinen Rücken, der den Großteil der Leinwand verdeckt und ihr somit die Sicht versperrt.

Kopfschüttelnd verharrt Harry nahe den Stiegen, die sich rechts von der Haustür befinden. "Es ist noch nicht vollendet", bemerkt er, bevor er den linken Fuß auf die erste Stufe stellt und den Kopf zu ihr wendet, "Ich werde gleich zu Ihnen zurückkehren. Überlegen Sie sich in der Zeit bitte, wie Sie mich bezahlen wollen."

"Weshalb sollte ich Sie für ein Werk belohnen, das ich nicht zu Gesicht bekomme?", kontert Carolina und stemmt die Hände bestimmt in die Hüften. Sie hebt ihr Kinn an und zieht die Augenbrauen überlegen nach oben, als sie erkennt, wie dem Mann die Worte in Hals stecken zu bleiben scheinen.

Doch nach wenigen Sekunden entspannt sich sein Gesichtsausdruck und er lacht leise. Langsam kehrt Harry ihr wieder den Rücken und ruft ihr desinteressiert zu: „Entweder Sie vertrauen auf meine Fähigkeiten, oder Sie betreten nie wieder mein Atelier. Es ist nicht meine Art, unvollendete Gemälde für Augen Ihresgleichen sichtbar zu machen."

"Wir sind nicht so verschieden, wie Sie denken, Monsieur Styles", raunt Carolina, bevor sie den Mann mit einer flüchtigen Handbewegung auffordert, ihr Sichtfeld zu verlassen.

Noch einige Sekunden starrt sie auf seinen Rücken, der sich ihr zugewandt bleibt, während Harry die Stufen hinaufsteigt, jeden Schritt bedacht setzend, aus Angst vor dem Fall. Vor allem aber aus Angst vor der unabsichtlichen Zerstörung seines Werkes.

Schließlich ist er jedoch aus ihrem Sichtfeld verschwunden und die Frau kehrt mit ihren Gedanken von den eindringlichen Beobachtungen zurück in die Realität. Laut seufzend dreht sie sich nach links, ihr Kopf den Bewegungen ihres Körpers voraus und bevor sie sich versieht, landet ihr Blick auf einem der Tischlein, die mit allen möglichen, in ihren Augen wertlosen Dingen voll geräumt sind. Noch einmal sieht sie zu den Treppen, um eine überraschende Rückkehr des Malers ausschließen zu können, bevor sie sich in Bewegung setzt.

Carolinas Finger streichen über das dünne, bedruckte Papier, das aus einer Zeitung ausgerissen wurde. Verwirrt ziehen sich ihre Augenbrauen zusammen und sie liest flüsternd die Schlagzeile vor: „Pendu par amour."

French Girls / h.sWhere stories live. Discover now