Vom ersten Treffen - Der harte Vater

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1948 spitzen sich die alliierten Gegensätze nach dem Kriegsende in der deutschen Frage zu, eine Währungsreform und die Berlin-Blockade bestimmten das politische Geschehen. Der Schrecken wurde in den Familien weitgehend verdrängt. Man war mit der Beschaffung von Arbeit, Nahrung und Brennmaterial ausgelastet.

Oskars Vater arbeitete inzwischen für wenig Geld als Chirurg im evangelischen Krankenhaus der naheliegenden Kreisstadt. Vor dem Essen wurde immer gebetet und dann sollte schweigend gespeist werden. So auch am Donnerstag, dem siebten Geburtstag seines immer noch einzigen Sohnes. Der Beginn seines achten Lebensjahres blieb besonders intensiv in Oskars Erinnerung haften. Nach dem Gebet wurde zunächst wortlos gegessen, bis Vater das Schweigen brach:
„Oskar, setz' dich ordentlich hin!"
Oskar richtete sich auf. Etwas später wieder der Vater:
„Oskar schmatz nicht!", und so ging das weiter:
„Oskar halt' die Gabel nicht wie eine Schaufel, ... klappere nicht mit dem Messer".
Die Mutter saß stillschweigend mit gesenkten Augen und genervtem Gesichtsausdruck am Tisch, wagte ihren Mann nicht anzuschauen und starrte auf ihren Teller.
Nach einiger Zeit fragte Oskar ganz ruhig:
„Vater, warum schmatzt du denn jetzt und lehnst dich zurück auf deinem Stuhl?"
„Unverschämter Bengel!", schreit der Vater und knallt sein Besteck auf den Teller.
„Du kommst nach dem Essen in mein Arbeitszimmer".
Mutter sagte nichts, wusste aber, dass es Prügel setzen werde.
Es gab 30 Rohrstockhiebe auf den blanken Po, die Oskar, ohne einen Laut von sich zu geben, ertrug. Er fasste nach dem 21.Schlag einen weitgehenden Beschluss, wollte in Zukunft nur noch jeden siebten Schlag wahrnehmen und die anderen ignorieren. So konnte er die weiteren Schläge bis 30, dem Standard seines Vaters, weitgehend ausblenden. Zurück in seinem Zimmer beschloss er nur noch jede siebte unangenehme Frage zu beantworten, nur jede siebte Bitte zu erfüllen und nur jede siebte Rüge zu ertragen. Und er wollte nur noch jeden siebten Buchstaben seines Namens benutzen. Doch da dann lediglich der Buchstabe O blieb, machte er hier eine Ausnahme und nannte sich fortan Os, die ersten beiden Buchstaben seines Vornamens. Vater hatte ihm zur weiteren Strafe aufgegeben, zehnmal alle zehn Gebote sauber aufzuschreiben. Os konnte dank des Trainings seiner Eltern schon vor seiner Einschulung fast fehlerfrei schreiben. Doch auch in diesem Fall beschloss er lediglich das erste und das achte Gebot, ein erstes und ein achtes Mal zu Papier zu bringen und schrieb ohne Fehler, denn die Gebote hingen jederzeit sichtbar auf einer Tafel in der Küche an der Wand:

Ich bin der Herr, Dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben
Du sollst kein falsches Zeugnis von dir geben wider deinem Nächsten.

Ich bin der Herr, Dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben
Du sollst kein falsches Zeugnis von dir geben wider deinem Nächsten.


Vater holte den Zettel am Abend ab und schimpfte:
„Was soll das? Ich hatte dir aufgetragen zehnmal alle zehn Gebote aufzuschreiben. Heute hast du noch Geburtstag, aber dir werd' ich's schon zeigen. Morgen sprechen wir uns".

Der zweite Tag des achten Lebensjahres begann nach der Schule mit einer Standpauke seines Vaters nach dem schweigend verbrachten Mittagessen. Os ließ wie geplant nur jeden siebten Satz in sich hinein. Die anderen schaltete er auf Durchgang, zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus. Bis Sonntagabend saß er seinen Hausarrest ab und ging Montag wie gewohnt zur Schule, in der er sich am wohlsten fühlte. Vater wurde am Ende des Monats kurzfristig einberufen und musste an die neu aufgemachte Ostfront.

Os Vater war aus dem Russlandfeldzug, in dem er als Stabsarzt im Feldlazarett operierte, erst nach längerer Gefangenschaft zurückgekommen und litt an den schwerwiegenden Folgen seiner Verletzungen, was dann zu seinem frühen plötzlich eintretenden Tod führte.
Die alleinerziehende Mutter half bei der Wiederinbetriebnahme der Schule in ihrem Dorf, indem sie in ihrem erlernten Beruf als Grundschullehrerin arbeitete. Der Tod des Ehemannes hatte sie nicht sonders berührt, schien sie eher zu erleichtern. Ihre materielle Situation war dank ererbter Vermögen von ihren verstorbenen Eltern erträglich. Das Gutshaus musste sie zwar verkaufen, da sie es nicht erhalten und bewirtschaften konnte, aber die Versorgung mit Lebensmitteln und Brennmaterial klappte zufriedenstellend.
Os erbrachte in der Schule nur sehr mäßige Leistungen im Rechnen und Schreiben. Ihn interessierte vor allem der Kunstunterricht. Seine Mutter beschloss deshalb den Jungen nach der Grundschule in die gerade neu gegründete Waldorfschule in Hamburg Nienstedten einzuschulen. Dort fühlte der Junge sich blendend, obwohl er einen langen Anfahrtsweg mit Bus und Bahn hatte. Seine kreativen Fähigkeiten wurden durch das Rudolf-Steiner-Konzept hervorragend gefördert.


Oskar - gezeugt von Nazivater im Zweiten WeltkriegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt