Vom neunten Treffen - Familientragödie und eine unerwartete Begegnung

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Am 26.Dezember 2004 mitten in der Nacht brach vor West- und ein gewaltiges unterseeisches vor der Nordwestküste der indonesischen Insel aus. Es war das drittstärkste jemals aufgezeichnete Beben und löste eine Reihe von verheerenden an den Küsten des aus. Insgesamt starben durch das Beben und seine Folgen etwa 230.000 Menschen.

Os Frau Annette wollte in den Sommerferien mit ihrer Freundin aus Studienzeiten ein Kulturwochenende in Berlin genießen. Auf der Fahrt hatten die beiden einen tragischen Unfall. Bei einem Stau auf der Autobahn raste ein LKW ungebremst in ihren Golf. Beide starben noch an der Unfallstelle. Der Fahrer des LKWs war eingeschlafen und überlebte. Os war geschockt. Seine Söhne hatten inzwischen Abitur gemacht und studierten in Berlin und Freiburg. Weihnachten flogen sie mit ihren Großeltern nach Thailand. Er selbst wollte einfach mal Ruhe und kam nicht mit.

Die mächtigen Wellen eines gewaltigen Tsunamis überrollten in der Nacht am 26.Dezember das ganze Hotelgelände und rissen alles Lose mit sich. Die Großeltern ertranken bei dem Fluchtversuch auf höheres Gelände. Os Söhne waren glücklicherweise auf einem zweitägigen Ausflug im Landesinneren und überlebten.

Nach diesem zweiten tragischen Familienunglück im selben Jahr fühlte er sich oft sehr einsam. Draußen krachte der Frost und in der Luft wirbelten fallende Flocken. Der Winter strebte seinem Höhepunkt entgegen. Die kleine Kreisstadt hatte sich in den letzten Jahren zum Ballungsraum verdichtet. Fensterlichter flimmerten über abgezäunte Felder am Rande der Stadt und ließen die Häuserblöcke durchlöchert erscheinen, unregelmäßig wie ein Schweizer Käse. So konnte er sehen, wo Leben geschah und wo nicht. Die Hügel dahinter verloren ihre Schärfe im diffusen Gemisch aus Schneeflocken und der beginnenden Dämmerung. Bunte Lichter zappelten in Richtung Ortsmitte, einem Stimmungsgemenge aus Reklameschriften, Verkehrsampeln und reflektierenden Schneekristallen.

Seit einiger Zeit plagten ihn häufig Herzstiche in der linken Brusthälfte. Er beschloss einen Trip mit seinem SUV in der naheliegenden Schneelandschaft zu machen. Einfach ziellos herumfahren. Os holte den winterbereiften Wagen aus der Garage und bog nach links in seine Wohnstraße ein, dachte darüber nach, wie langweilig Langeweile sein kann. Ein Fragezustand, der ihn immer öfter verfolgte und nicht mehr gesteigert werden konnte.

An der Bushaltestelle am Ende seiner Wohnstraße winkte ihm eine Frau zu, wollte ihn zum Anhalten bringen, ihn wahrscheinlich als Busersatz benutzen. Er überlegte kurz, denn normalerweise nahm er keine fremden Menschen mit, entschloss sich aber anzuhalten. Fragte die wohl noch recht junge Frau:

„Wo wollen Sie denn hin?"
Sie antwortete:

„Ach Sie ..., wir haben uns doch schon öfter bei REWE im Supermarkt gesehen. Am Mittwoch dieser Woche standen Sie vor mir an der Kasse".
„So...?"
„Ich wollte eigentlich mit dem Bus nach Harburg und dann wieder zurück, aber am liebsten würde ich ein bisschen durch die Gegend fahren. Ich brauche etwas Ablenkung vom Stress meiner Wohngemeinschaft".
Ach so eine, denkt Os.
„Na gut, steigen Sie ein. Ich bin dabei meine Langeweile zu bekämpfen und will deshalb ein bisschen herumfahren. So stimmen wir ja überein in unseren Wünschen. Wie heißen Sie denn?"
„Sabine".
Sie atmete erleichtert aus und warf sich in den Beifahrersitz, der schon länger nicht besessen wurde. Os ließ die Kupplung sanft kommen und fuhr los. Sie beugte sich nach vorn, klappte die Sonnenblende herunter und betrachtete ihr Gesicht in dem kleinen Spiegel. Dann fingerte sie einen Lippenstift aus ihrer rechten Manteltasche und zog ihre Lippen blassrosa nach.
Kein Benehmen diese Frau, dachte Os - von WG-Bewohnern nicht anders zu erwarten.

Gerade als Sabine sich in ihren Sitz zurücklehnte, fegte eine heftige Windbö über den Wagen und brachte ihn zum Schwanken. Beide zogen instinktiv ihre Köpfe ein und schauten sich erschrocken an. Ein kleiner Schneesturm verschaffte den Wischern zusätzliche Arbeit.

Schweigend fuhren sie weiter durch eine Allee starker Eichenstämme, bis sie den nahe gelegenen Wald erreichten. Die Scheinwerfer streiften die teils weiß gefärbten Bäume in den Kurven wie aufflackernde Irrlichter. Eine unheimliche Stimmung tat sich auf. Beide genossen es, ohne Worte zu wechseln. Hätten sie gesprochen, wären diese kostbaren Empfindungen weggesickert. Plötzlich trat Os heftig auf die Bremse und der SUV kam leicht ins Schlittern, konnte aber rechtzeitig stoppen, wobei der Motor abgewürgt stehen blieb. Vor ihnen in der Straßenmitte stand ein Reh, starr und gebannt vom Scheinwerferlicht. In seinem erhobenen Kopf glommen zwei rote Löcher. Schneeflocken taumelten zwischen den Bäumen hindurch, um diesen magischen Moment der Ruhe etwas zu beleben. Nach Momenten des Verharrens schaltete Os die Scheinwerfer aus, startete den Motor und ließ ihn im Leerlauf aufheulen. Das Reh schreckte auf und verschwand mit großen Sprüngen im Wald.

Sabine fragte:

„Haben sie vielleicht etwas Musik im Wagen?"
„Ja, schauen Sie mal ins Handschuhfach".
Sie kramte irgendeine CD heraus und schob sie in den Player. Aus den Lautsprechern ertönte Klarinettenmusik, ein sanfter Gehörteppich, in den sich eine Frauenaltstimme mischte. Os kuppelte wieder ein und beschleunigte den Wagen. Die Straße trat nach einigen langsam gefahrenen Kilometern aus dem Wald und wurde nun von Vogelbeerbäumen begleitet. Ab und an leuchteten Dolden roter Beeren im Scheinwerferlicht auf. Einzelne Blätter, die der Herbstwind zurückgelassen hatte, hingen wie große vertrocknete Hautfetzen im Geäst. Die Klimaanlage hatte das Wageninnere inzwischen hochtemperiert. In Os Schläfen, die so dünn waren wie Papier, pochte der Puls in schnelleren Schlägen und die Langeweile war im Nirgendwo verschwunden.

Sabine fragte:

„Kann ich mal etwas lüften, mir ist heiß?"

Ihren Mantel hatte sie schon geöffnet.
„O.K.", sagte Os und drehte den Regler der Klimaanlage auf 20 Grad.

Sie öffnete kurz ihr Seitenfenster. Auch sein Gehirn war inzwischen heiß gelaufen und er überlegte, was er mit seinem Zustieg noch anfangen könnte. In dem Moment schlug sie vor, dass sie gern zurückfahren wollte. Sie hatte ihm die Entscheidung genommen.

Von rechts näherte sich die Schneise der Autobahn, Lichtstreifen, die weiterstiebende Schneepartikel wie Silvestermunition verschossen. Er fädelte sich ein, gab Gas auf der weitgehend schneefreien Piste und nahm nach zehn Schweigeminuten die zweite Abfahrt. Schilder gaben jetzt die Geschwindigkeit an, die er aufzunehmen hatte. Nach sieben Kilometern öffnete sich seine Wohnstraße. Sabine bat ihn an derselben Stelle anzuhalten, an der er sie aufgenommen hatte. Beim Abschied gab sie ihm einen kräftigen Kuss auf die rechte Wange und bedankte sich herzlich für die schöne Fahrt. Die Beifahrertür, die er in der letzten Zeit nur geöffnet hatte, wenn er Gepäckgegenstände auf dem Sitz deponierte, schlug zu und er zuckelte langsam in Richtung Garage. Seine Herzstiche waren wie weggeblasen.


Oskar - gezeugt von Nazivater im Zweiten WeltkriegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt