Exitus

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Seinen 70. Geburtstag 2011 wollte Os nicht feiern. Aber er schrieb mir von dem Geheimnis seiner letzten Liebe. Sie hieß Irma und er nannte sie "Irma la Douce". Sie war Anfang des Jahres in die Villa Ahorn eingezogen, hatte schlohweißes Haar, eine gepflegte schlanke Figur und strahlende blaue Augen. Er hatte sich sofort in sie verliebt und die beiden tranken jeden Nachmittag zusammen einen Kaffee und plauderten über ihre Leben. Irma war im letzten Jahr Witwe geworden und hatte keine Lust mehr in ihrer großen Wohnung allein zu hocken. Ihre beiden Kinder wohnten weit weg, ihre Tochter hatte nach Argentinien geheiratet, lebte in Buenos Aires, und ihr Sohn arbeitete als Banker an der Wall Street in New York.
Irma nannte Os nach einiger Zeit liebevoll "Alter Knochen", wegen der Übersetzung aus dem Lateinischen. Er war damit einverstanden, denn zu Oskar wollte er nicht zurück. Die beiden hatten in den letzten drei Monaten sehr schönes, liebevolles Gekuschel. Ganz geheim halten konnten sie das nicht, denn die Türen ihrer Zimmer waren jederzeit aus Sicherheitsgründen von außen zu öffnen und einmal wurden sie durch eine Putzfrau überrascht. Den Pflegerinnen gefiel das gar nicht, aber sie konnten es nicht verbieten. Vielleicht waren einige auch einfach nur neidisch, wenn das alte Liebespaar auf Wolke Sieben schwebte. Bei ihrer letzten Himmelfahrt verstarb Irma leider mitten im Orgasmus an Herzversagen. Eigentlich wollten sie das beide zusammen tun, aber es hatte nicht geklappt. Wohl auch ein schwierig zu erreichendes Ziel.
Os fühlte sich wieder einmal extrem alleingelassen und beklagte sich immer mehr über starke Kopfschmerzen. Im Spätherbst hatte er einen Termin im Krankenhaus, um im Kernspintomographen untersucht zu werden.

In der Silvesternacht 2011 auf 2012 verstarb Os. Drei Tage später überstellte mir die Verwaltung der Villa Ahorn einen an mich gerichteten versiegelten Brief, der in seinem Nachtschränkchen lag:

Lieber Herr Sätzer,
wenn Sie diese Zeilen erhalten, lebe ich nicht mehr. Die Ärzte haben einen Gehirntumor diagnostiziert. Das konnte ich nicht mehr ausblenden. Ich sollte im Januar operiert werden. Die Leitung der Villa Ahorn wollte keine Verantwortung mehr für mich übernehmen und bestand darauf, dass ich ins Krankenhaus musste.
Ich werde folgenden Plan durchführen: Ich besorge mir in St.Pauli auf dem Schwarzmarkt eine Pistole, miete mir heimlich am letzten Tag des Jahres einen PKW, fahre in das Dorf meiner Kindheit in der Nordheide und nehme Abschied von meinem Geburtshaus, das längst verkauft ist und von anderen mir unbekannten Menschen bewohnt wird. In der mir vertrauten Heide, wo ich sehr einsame Stellen kenne, stelle ich das Auto an einem kleinen, dunklen Weiher ab. Ich habe die Absicht zu warten, bis es dämmert. Werde dann ein paar Schritte in den Weiher waten und mich erschießen. Ich will nicht mehr in die Klinik.
Ich bin der Herr, Dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Du sollst kein falsches Zeugnis von dir geben wider deinem Nächsten.
Ihr Os
P.S. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, die Sie mir an den Sonntagen geschenkt haben. Stellen Sie meine Geschichte ins Internet. Vielleicht interessiert das jemanden.


Os Leiche wurde erst sieben Tage später von einem Wanderer am Rande des Weihers gefunden. Wieder diese magische Sieben in seinem Leben.

Eigenartig, aber vermutlich waren seine letzten Sätze, die Gebote 1 und 8, so fest in seinem Gehirn in der Jugend verankert und dann vom immer größer werdenden Tumor wieder heraus gedrückt worden. Das erschien mir plausibel, denn diese zwei Gebote wurden, wie auch die anderen, von seinem Vater mit Gewalt hinein gepresst, aber damals nicht auf Durchgang geschaltet. Vielleicht wollte er auch im Falle des ersten Gebotes beweisen, dass er keinen Herrn brauchte, selbst seinen Sterbezeitpunkt bestimmen und Zeugnis über sein Leben ablegen konnte. Das zumindest über jedes siebte Jahr.


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Oskar - gezeugt von Nazivater im Zweiten WeltkriegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt