Ulrike Meinhof wurde1976 in ihrer Zelle im Gefängnis Stuttgart-Stammheim erhängt aufgefunden, Vietnam nach langem Krieg wiedervereinigt und die chinesische Kulturrevolution fand ein Ende.
Den Geburtstag des Jahres hatte Os besonders heftig in Erinnerung, da er einschneidend für sein weiteres Leben wurde. Beim Einräumen frisch gewaschener Wäsche in den Kleiderschrank seiner Frau entdeckte er eine Flasche weißen Rum. Sie ist Alkoholikerin schoss es ihm blitzartig durch den Kopf. Bisher war ihm nie der Gedanke gekommen, obwohl er schon des Öfteren bemerkt hatte, dass sie manchmal sehr viel trank. Aber da das nicht regelmäßig geschah und in Gesellschaft bisweilen sehr viel getrunken wurde, hatte er sich nichts dabei gedacht. Als er sie zur Rede stellte, bestritt sie, Alkoholikerin zu sein. Er beließ es dabei, bis ihr gemeinsamer Hausarzt bei seinem nächsten Termin ihn fragte, ob er wüsste, dass die Leberwerte seiner Frau auf einen Alkoholismus hindeuteten. Jetzt war er alarmiert und informierte sich intensiver über dieses Suchtverhalten.
Ihm wurde klar, dass immer, wenn sie sich für ein Wochenende wegen Regelschmerzen in ihr Zimmer verzog und dort nicht gestört werden wollte, sie in Wirklichkeit trank. Sie war eine sogenannte Quartalssäuferin.
Es folgte eine Odyssee diverser Therapieversuche. Doch auch die Meetings bei den Anonymen Alkoholikern wurden nach kurzer Zeit von ihr wieder abgebrochen. Nach vielen Gesprächen verabredeten sie, dass sie eine Entziehungskur machen müsse, um erst einmal trocken zu werden. Anfang Januar des Folgejahres sollte sie beginnen.
Da ihn diese schreckliche Zeit sehr traurig und er danach einen Kurs in kreativem Schreiben gemacht hatte, schrieb er die Situation in Form einer Kurzgeschichte auf.
Den Text gab er mir mit Tränen in den Augen zum Lesen mit nach Hause. Ich nahm ihn in die Arme und ging dann heim.
Irrlichter
Bleigrauer Himmel. Klirrende Kälte. Dichtes Schneetreiben auf dem Bahnhofsvorplatz. Der ICE nach Basel soll in einer Stunde eintreffen. Wir frieren und flüchten uns in die Cuba-Bar.
Ich stelle den schweren Koffer ab, schiebe mich auf einen Hocker an der Theke.
„Schön hier", sagt sie und setzt sich neben mich.
„Was möchtest du trinken?", frage ich.
„Lass' uns Cuba Libre bestellen".
„Zwei Cuba Libre", sage ich zur Barfrau hinter dem Tresen.
„Große?"
„Ja, zwei große", sagt sie.
„Ich nur einen kleinen".
Die Barfrau mixt die Drinks und stellt sie auf die Theke. Sie guckt uns beide an und geht etwas zurück.
Meine Frau nimmt einen gierigen Zug und schaut sich dann um. Sie blickt aus dem Fenster. Der Wind wirbelt die Schneeflocken durcheinander. Die Menschen hetzen gebückt über die große Fläche. Reklameleuchten flackern an den Häusern gegenüber.
„Wie Irrlichter", sagt sie.
„Ich hab' noch nie welche gesehen", sage ich.
„Was zeigt denn die Tafel am Kaufhaus gegenüber?", fragt sie.
„Bionade ist Kult".
„Das möchte ich ausprobieren".
Sie stürzt den Cuba Libre hinunter. Ich nippe am Glas und rufe die Bedienung:
„Hallo, haben Sie auch Bionade?"
„Ja sicher! Mit Holunder-, Quitte- oder Litschigeschmack?"
„Willst du mit Holundergeschmack?", frage ich.
„Ich weiß nicht".
„Nehmen Sie Holunder. Ist gut bei der Kälte", mischt sich die Barfrau ein.
„Es schmeckt bestens", sage ich und setze mein Glas ab.
„Und ist viel bekömmlicher als der weiße Rum im Drink!"
„Ach, hör schon auf damit", sagt meine Frau.
„Seine Wärme tut mir gut".
Sie streicht über ihren Bauch und schaut hinaus in das Schneetreiben.
„Es ist wahnsinnig schön", sagt sie.
„Die Reklameleuchten wirken eigentlich gar nicht wie Irrlichter. Ich sehe nur das Aufflackern, das die Schneeflocken zum Glitzern bringt.
„Lass' uns noch etwas trinken?"
„Gut, einen noch", antworte ich zögerlich.
„Der Rum wärmt meine Seele", sagt sie.
„Es ist wirklich eine gute Klinik in den Bergen", sage ich, „dir wird es gefallen".
Sie senkt den Blick und starrt den Fußboden an.
„Ich weiß, dass du keine Angst hast. Du wirst es schaffen".
Sie schweigt ....
„Und was wird nachher?"
„Nachher wird es so schön wie früher, als wir gemeinsam hinausschwammen, auf den Stocksee, beim Caravaning im Sommer. Wie es nur noch uns gab. Dich und mich".
„Warum glaubst du das?"
„Bis ans Ende der Welt wollten wir schwimmen, du immer ein paar Züge voraus".
„Und du glaubst, dass wir wieder glücklich werden?"
„Ja, ich weiß es. Du brauchst keine Angst zu haben, ... fühlst du dich jetzt besser?"
„Lass' uns gehen! Ich möchte den Zug nicht verpassen", sagt sie und atmet entschlossen ein.
„Gut".
Ich helfe ihr vom Barhocker.
„Doch", sagt sie und ihr Blick gleitet hinaus ins Schneegestöber, ... „doch ... es geht mir gut ... ja, es geht mir gut".
Marie hatte auch diese Therapie nach kurzer Zeit abgebrochen und trank in Abständen immer wieder, fing an, Nachbarn zu belästigen und Os körperlich zu bedrohen. Er bekam Angst vor erneuten tätlichen Angriffen und zog aus der gemeinsamen Wohnung aus. Nach einem Jahr reichte er die Scheidung ein und beschloss nach Hamburg zu ziehen.
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Oskar - gezeugt von Nazivater im Zweiten Weltkrieg
Short StoryOskar wurde Ende 1940, im Zweiten Weltkrieg als Fötus wild herumgeschleudert. Seine Mutter versuchte ihn in wilden Ritten abzutreiben, denn sie wollte keine Kinder, schon gar nicht ....... Im Juli 2012 wäre Oskar 71 Jahre alt geworden. Ich traf ihn...