1983 wurde der NS-Kriegsverbrecher Klaus Barbie, Schlächter von Lyon, früherer Gestapo-Chef in dieser Stadt, in Bolivien festgenommen, wo er als Klaus Altmann lebte. Im Kalten Krieg meldete ein technisches Problem im Sowjetischen Überwachungszentrum den Abschuss von Atomraketen in den USA. Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow reagierte besonnen und stufte es nach bangen Minuten als Fehlalarm ein. Hunderttausende versammelten sich im Bonner Hofgarten, um für Frieden und Abrüstung und gegen den NATO-Doppelbeschluss zu demonstrieren. Insgesamt etwa 1,3 Millionen Menschen bekundeten in der BRD an diesem Tag ihre Abneigung zur Nachrüstung. Der Deutsche Bundestag billigte die Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen Pershing 2.
Die rätselhafte Krankheit AIDS, die zu der Zeit tödlich verlief, trat in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit.
Udo Lindenberg trat bei einem Rockkonzert im Berliner Palast der Republik auf. Den einzigen Auftritt in der DDR hatte sein Hit "Sonderzug nach Pankow" ausgelöst, in dem der Sänger ironisch an Staatschef Erich Honecker appellierte.
Es wurde immer mehr Selbsterfahrung, sei es in Frauen-, Männergruppen und in von Psychologen und Gurus angeleiteten Workshops, betrieben.
Inzwischen war Os nach Hamburg gezogen und arbeitete in der Logistikabteilung eines großen Speditionsunternehmens, denn in Hannover hielt ihn nichts mehr. Auch das Journalistendasein kotzte ihn an. Mit seinem neu gewonnen Freund Hannes aus der gemeinsam gegründeten Männergruppe fuhr er mit der Bahn zur Demo gegen den Nato-Doppelbeschluss nach Bonn.
Am Tag nach Os Geburtstag hatten sie sich beide zwei Tage frei genommen, um ihre Scheiterungen beim weiblichen Geschlecht "abzufeiern". Hannes machte vor einer Woche Schluss mit seiner Freundin Iris. Sie wollte ein Kind und er nicht. Os lebte nach seiner Scheidung in einer Phase serieller Monogamien, mal länger, mal kürzer, in konsequent getrennten Wohnungen. Von seiner aktuellen Flamme Eva war er nur noch genervt. Sie konnte einfach nicht loslassen, hatte keinen Spaß am Sex, hielt am liebsten immer nur Händchen, war eher der Typ Seelchen und passte nicht zu seiner körper-geist-fixierten Wesensart.
Beide wollten die Frauen vergessen, in der Art des Vergessens wie einen Regenschirm, den man in der U-Bahn liegen lässt und an den man erst wieder denkt, wenn ein Regenschauer aus heiterem Himmel überrascht. Deshalb enterten sie am späten Abend die Muschibar in St Pauli. Allzu viel erinnerte Os nicht mehr, denn es gab keine größere Diskrepanz als die zwischen der gesamten Zeit des Besäufnisses und den abgesplitterten Teilen von Nebel und Klarsicht.
Die Bar war schmal, lang und dunkel. Manchmal kamen Musiker nach ihrem Auftritt zum Abhängen. Die Kunden waren zu spießig oder zu knauserig, zu den Huren zu gehen oder sich eine Freundin zu halten. Sie saßen lieber an der Bar und betrachteten Lenas große Titten, die sie wie eine Dünenlandschaft vor sich her trug. Sie streckte diese gern den lüsternen Blicken der Männer entgegen, die dann in fortgeschrittenem Alkoholstadium manchmal zulangen durften. Zu späterer Stunde legte sie die schwer gewordenen Brüste zur Entlastung auf ihrem Tresen ab. Den Männern gefiel das. Das Vergnügen musste mit einem endlosen Strom Wodka, Gin oder Whisky bezahlt werden. Lena gefiel das. Os gefiel das Tittenbetrachten mit einem gewissen vernebelten Gehirn und entsprechendem Blick auch. Die wüstenwindähnlichen Besteigungen und Austauschvorgänge und die sinnlosen Streitereien und Gespräche mit Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts ertranken zu später Stunde im Gelalle der Gefühle. Beide vergaßen sie, die Frauen und die Gefühle, in der Art, bei der man vergisst, was man vergessen hat.
Sie nahmen sich zur Sperrstunde ein Taxi und lagen sich weinend auf dem Rücksitz in den Armen. Die Sintflut bahnte sich ihren Weg. Die verletzte Seele brauchte ein Ventil. Der Fahrer musste sie in Hannes Wohnung bringen, da dieser den Schlüssel nicht mehr ins Loch brachte und Os es auch nicht schaffte. Sie wachten erst am frühen Nachmittag, immer noch katerisiert, in voller Montur in Hannes französischen Bett auf und beschlossen nach dem Duschen in die Milchbar Lucky Kuh in der Altstadt zu gehen, denn der Kühlschrank war leer wie das Gehirn, das außer Schmerz nichts mehr belastete. Der kleine Spaziergang tat ihnen gut. Sie konnten ihre Köpfe etwas entlüften und mussten feststellen, dass es ohne Frauen auch nicht schön ist.
Im Sommer desselben Jahres lernte Os Veronika kennen. Doch die Beziehung hielt nur drei Monate. Er fühlte sich wieder sehr allein. Was er auch vorhatte, es lag im Nebel, aber Veronika ging ihm nicht aus dem Kopf, da er sie später in einem Café an der Elbe gesehen hatte. Sie saß dort mit einem anderen Mann in angeregte Unterhaltung vertieft. Seltsam, dass er mit einer Frau ins Bett steigen konnte und schon ein paar Wochen später von ihr nichts mehr wusste, doch dass ihn der Gedanke an sie aus der täglichen Lethargie holte. Die Gegenwart dieses Denkens war wie beharrliches Unkraut. Es kehrte Tag für Tag mit derselben Gestalt zurück, und dennoch erwartete er etwas Neues.
Der Abend dunkelte und schlich in den Zimmern seiner kleinen Wohnung umher, überfiel ihn von allen Wänden. Er fragte sich, ob er die letzte Trennungserfahrung wie eine Lampe ausschalten konnte. Das hatte er zunächst gedacht und versucht, glaubte an einem Punkt angekommen zu sein, wo das Leben ihm das Notwendige beigebracht hätte, aber alles drehte sich nur noch im Kreis. Immer dasselbe, nur jedes Mal etwas schwerer zu ertragen.
Veronika warf ihm vor, dass er keine Gefühle zeigte, wenn es angebracht war. Doch wann war etwas angebracht und wann nicht? Er wusste es nicht. Sie meinte, von Männern wie ihm müsse man sich fernhalten. Nur dann kann einem nichts mehr passieren. Aber was ist dann, wenn nichts mehr passiert?Sein Leben in Bezug auf Frauen bestand nach seiner Scheidung von Marie aus Ereignissen, die keinen Zusammenhang durch diese oder jene Vorstellungen hatten. Veronika war ihm einfach geschehen. Er kam an einem sonnigen Spätsommertag im Stadtpark auf einer Bank am See mit ihr ins Gespräch. Sie verliebten sich, zumindest glaubte er das. Im Verlauf ihrer Treffen hatte sie ihm Liebe oder zärtliche Worte, ja beides zu Teil werden lassen, doch inzwischen wusste er, sie hatte Antworten erwartet. Er war es nicht gewohnt, dass ein Gefühl mehr bedeutete, wenn man es beim Namen nannte. Er war dankbar für ihre Gesellschaft und hätte ihr zumindest ab und an sagen müssen, dass sie ihm fehlte, wenn sie nicht bei ihm war. Er hielt das nicht für notwendig, denn er fühlte sich wohl in ihrer Nähe. Manchmal hatte er allerdings Angst, ihr so nah zu kommen, dass er herausfinde, wie fremd sie ihm war, obwohl sie auch zusammen ins Bett stiegen.
Nach ein paar Wochen wurden ihre Treffen seltener und kürzer. Ihre Abwesenheiten begannen Stück für Stück länger zu werden. Er sah das, lange bevor es da war, denn Veronikas Blicke wurden undurchdringlicher und ihr Schweigen greifbarer, bis sie eines Tages nicht mehr kam. Sie hinterließ in ihm das Gefühl, als würde sein Leben weggeschleudert.
Os spürte nach dem Wiedersehen von Veronika mit dem anderen Mann, dass wieder Angst und Trotz sein Gehirn belagerte und ihm auf den Magen schlug. Er ging auf den Balkon, um frische Luft zu schnappen. Schaute in den Himmel. Die Sterne ließen sich an dem Abend nicht blicken. Sie wurden von niedrigen Wolken verdeckt, von den Lichtern der Stadt angestrahlt und vom Wind, der die Winterluft vor sich hertrieb, gejagt. Er konnte endlich wieder durchatmen und ging nach ein paar Minuten fröstelnd zurück ins Wohnzimmer. Kein einziges Wort von dem, was Veronika in ihren schönen Zeiten hier geäußert hatte, war aus dem Raum entschwunden. Wie greifbare Gegenstände standen die Sätze irgendwo zwischen den Möbeln und Pflanzen. Da gab es kein Entkommen. Er hörte alles, was sie sagte, fühlte sich schuldig geworden an der Liebe.
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Oskar - gezeugt von Nazivater im Zweiten Weltkrieg
Short StoryOskar wurde Ende 1940, im Zweiten Weltkrieg als Fötus wild herumgeschleudert. Seine Mutter versuchte ihn in wilden Ritten abzutreiben, denn sie wollte keine Kinder, schon gar nicht ....... Im Juli 2012 wäre Oskar 71 Jahre alt geworden. Ich traf ihn...