Vom zehnten Treffen - Einsamkeit

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2011 bestimmten Volksrevolutionen in der arabischen Welt, ein gewaltiger Sunami mit der Folge eines atomaren GAU's in Fukushima und ein Wiederaufflammen der Finanzkrise die Schlagzeilen. Außerdem dominierten weiterhin Terroranschläge das politische Geschehen in vielen Ländern der Erde. Schreckliche Bilder flimmerten ständig über die Fernseher. Die Menschen wurden immer mehr zu Voyeuren der Leiden der Welt.

Nach dem Tod seiner Frau hatte er sich geweigert zu leiden. Das hatte er schon als Kind gelernt. Er wollte auch nicht mit dem Leid anderer zu tun bekommen. Sein wesentliches Mittel, dem zu entgehen, bestand darin, unablässig in Bewegung zu bleiben. Er wusste durch sein langes Leben, dass man so den anderen am besten entging. Letztendlich auch sich selbst.
Wenn er sich sein Mittagessen gekocht hatte, setzte er sich ohne eine gewisse Esskultur, wie sie seine Frau so liebte, an seinen Teller und schaufelte die einfachen Speisen mit schnellen mechanischen Bewegungen in sich hinein, wie jemand, der sich selbst abfüttert. In ähnlich schnellem Tempo wie sein morgendlicher Fitnesslauf vor dem Frühstück. Wenn der letzte Bissen geschluckt war, stand er sofort auf und lud das Geschirr in die Spülmaschine.
Er lebte, wenn er nicht in Bewegung war, in alten Erinnerungen, die durch sein Sieben-Regel-Schema dominiert wurden. Sie waren seine einzigen Sicherheiten, über die er noch verfügte, im Guten wie im Schlechten. Er wollte vermeiden, dass daran herumgebastelt wurde. Deshalb hielt nur sehr losen Kontakt zu seinen zwei Söhnen, die vieles anders sahen. Allerdings fühlte er sich manchmal durch seinen einen Sohn genötigt, in die Vergangenheit hinabzusteigen und diese einer Durchsicht zu unterziehen. Sein anderer Sohn mied eher alles, was sich unangenehm anfühlte, hatte sich weitgehend abgewendet. Die wenigen Freunde, wenn man das so bezeichnen kann, kamen ihm sentimental vor und erwiesen ihm keine Loyalität.
Er versuchte sein verleugnetes Leid wegzulaufen, doch konnte ihm letztendlich nicht entgehen. An einem Sonntagmorgen beschloss er ganz früh spazieren zu gehen, denn sein Knie schmerzte und er wollte den Zustand durch das Laufen nicht verschärfen. Es war ein dunkler Herbst im November. Das erste Grau in der Stadt begann aus den Gehwegen zu kriechen, schlich an den Häuserwänden entlang und zog die Umrisse der Gebäude, Autos, Straßenlaternen und kahlen Bäume aus dem Schutz der Nacht. Die Feuchtigkeit kroch kalt in seinen Mantel und er ging diesmal gegen seine Gewohnheit in langsamem Tempo um die Blöcke seiner Wohnungsumgebung.
Er konnte nicht verhindern, dass sein Gehirn unkontrolliert arbeitete. Ihm offenbarte sich, dass er beträchtliches Leid hinter sich gebracht hatte, dass sein Leiden ihn nicht immer ereignishaft überfiel, sondern zu einem Teil selbstgesuchten Entscheidungen entsprang. In der Essenz hatte er sich selbst alleiner als allein gemacht. Ein Teil seines Älterwerdens bestand darin, sich zu weigern, neue Erinnerungen anzulegen und Versäumtes in Beziehung zu seinen Söhnen nachzuholen, soweit das überhaupt noch möglich war. Er wusste immerhin aus seiner beruflichen Tätigkeit, dass, solange er nicht selbst etwas tat, seine Arbeit durch die Menschen und Dinge bestimmt wurden, die darin auftraten.
Das Wetter hatte sich inzwischen seiner veränderten Stimmung angepasst. Der neblige Dunst wich ersten Sonnenstrahlen, die versuchten der Stadt das Trübselige zu nehmen.


Oskar - gezeugt von Nazivater im Zweiten WeltkriegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt