XVI.

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XVI.

                  Mich zu verkriechen und die Außenwelt bestmöglich zu meiden, geht ungefähr bis Weihnachten gut. So lang, bis meine Mutter herausfindet, dass ich meine Wohnung nur noch in Ausnahmefällen verlasse und mich daher zu Weihnachten auf eine unserer riesigen Familienfeiern schleppen will. Was mein Boss – den mein Einsiedlerleben und die Tatsache, dass ich fast nur noch von zu Hause aus arbeite und an Meetings via Skype teilnehme, ebenfalls etwas zu beunruhigen scheint – zum Glück verhindert, indem er mich auf ein Seminar schickt. Dasselbe Seminar, das ich schon vor einem Jahr besucht habe. Das Seminar, das mich nach New York und somit direkt in Olivers Arme geführt hat.

Da ich meinen Boss mag und es wirklich zu schätzen weiß, dass er mir so viel Freiraum, was Ort und Zeit meiner Arbeit betrifft, lässt, kann ich seine Bitte kaum abschlagen.

So sitze ich am Weihnachtstag, eher widerwillig, in einem Flieger nach New York City. Konfrontiert mit all den Erinnerungen an meinen letzten Besuch im Big Apple – an Oliver – und all den Eindrücken der Außenwelt, vor denen ich mich wochenlang versteckt habe.

Oliver hat seine angeblich feste Freundin zwar noch nicht offiziell bestätigt. Trotzdem zieren Bilder der beiden beinahe jede der Zeitungen, die man mir beim Betreten des Flugzeuges anbietet und so lehne ich dankend ab und verschanze mich stattdessen mit meinem E-Reader und meinen eigenen Gedanken in meinem Flugzeugsitz.

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Das Seminar verläuft ähnlich wie im letzten Jahr und da auch diesmal wieder jede Menge interessante Vortragende da sind, kann ich mich wenigstens untertags ein wenig auf andere Gedanken bringen und meinen Kopf mit neuem Wissen vollstopfen.

Wenn ich abends allerdings alleine in meinem Hotelzimmer bin und nichts habe, um mich abzulenken, kommen die unerwünschten Gedanken alle hoch und quälen mich.

Daher beschließe ich, dass es wohl das Beste sein wird, wenn ich meine Abende nicht alleine mit Lieferservice-Essen verbringe, sondern mir etwas Ablenkung schaffe. Immerhin bin ich in New York - der Stadt die niemals schläft. Wäre doch gelacht, wenn ich hier nichts finden würde, dass mich auf andere Gedanken bringt.

So verbringe ich meinen vorletzten Abend in der Stadt nicht damit, mich alleine in meinem Hotelzimmer zu verschanzen. Stattdessen gehe ich hinaus, laufe durch das immer noch weihnachtlich geschmückte Manhattan, auf der Suche nach einer Ablenkung - welcher Form auch immer. Auch wenn ich bereits einige Male in New York war; ich bin mir sicher, dass die Stadt trotzdem etwas Neues für mich auf Lager hat.

Doch nachdem ich beinahe drei Stunden durch die nächtlichen Straßen gelaufen bin - vorbei an all den großen Sehenswürdigkeiten und jeder Menge prunkvoll geschmückter Läden und Lokalen – finde ich mich auf einem Platz wieder, der mir sehr wohl gut bekannt ist.

Das orange Neonschild der Bar, die ich genau vor einem Jahr mit Oliver besucht habe, leuchtet mir einladend entgegen. Für einen Moment halte ich inne und starre die Fassade der Bar an. Hier hat sich nichts verändert. Die Bar sieht noch exakt so aus, wie vor einem Jahr. Als noch alles okay gewesen ist. Als Oliver noch mit mir geredet hat und ich mich nicht wie eine Einsiedlerin in meiner Wohnung versteckt habe. Als die wunderschönen Momente, die ich mit Oliver teilen durfte, alle noch vor mir gelegen haben.

Dieses Gefühl der Beständigkeit lässt in mir eine Geborgenheit aufkommen und wie von selbst steuern meine Beine auf die Eingangstür zu und meine Hände ziehen diese auf. Eine wohlige Wärme erfüllt mich, als ich die Bar betrete und ein aufrichtig lächelnder Barkeeper fragt nach meiner Bestellung, als ich mich auf einen der Hocker an der Theke setze.

„Gin Tonic." Antworte ich ihm, bevor ich meinen Blick gedankenverloren, durch den Raum schweifen lasse.

Fast fühle ich mich, als wäre ich nie weg gewesen. Als wäre nicht ein Jahr, sondern höchstens eine Stunde vergangen, seit ich das letzte Mal hier gewesen bin. Eine Weile sitze ich einfach so da, lasse vor meinem inneren Auge alles, was seit meinem letzten Besuch hier passiert ist, nochmals Revue passieren. Frage mich, ob es wirklich so geschehen ist oder ob ich mir alles bloß eingebildet habe. Mein Gehirn mir einen bösen Streich gespielt hat. Meine Gedanken mich ausgetrickst haben.

Mein Gin Tonic kommt und reißt mich schließlich aus meinen Gedanken. Nachdem ich einen Schluck davon genommen habe, blicke ich mich wieder nachdenklich in der Bar um. Es sind nicht besonders viele Leute hier - nicht verwunderlich mitten unter der Woche und so kurz nach den Feiertagen. Die meisten Leute sind wohl bei ihren Familien oder in den Ferien und haben etwas Besseres zu tun, als in Bars herumzusitzen. Mich stört es aber gar nicht, dass es nicht besonders voll ist. Ich finde es sogar angenehmer, in Ruhe sitzen und das Treiben in der Bar beobachten zu können.

Doch als mein Blick auf einen Tisch in der hintersten Ecke des Raumes fällt, fühlt es sich plötzlich so an, als wäre kein einziger Mensch mehr rund um mich herum. Als gäbe es nur noch mich und die Person, die dort an diesem Tisch, über ein Blatt Papier gebeugt, sitzt. Nur noch mich und ihn. Oliver.

a/n: weil ich gerade gute laune habe (vor allem weil am freitag frei ist) hier ein weiteres kapitel :) wir nähern uns langsam aber sicher dem ende der geschichte und ich freu mich schon so, wenn ihr endlich lesen könnt wie es ausgeht ;)

One More Night | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt