XIX.

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XIX.

                 Ich weiß nicht, was die normale oder angemessene Reaktion darauf ist, wenn einem jemand einen Song schreibt. Noch dazu nachdem einem eben dieser Jemand eröffnet hat, dass die Person, die man für seine feste Freundin gehalten hat, eigentlich nur eine Geschäftspartnerin ist. Oh, und er nebenbei noch erwähnt hat, dass er in einen verliebt ist.

Daher sitze ich auch eine ganze Weile ziemlich überwältigt da und starre auf das Blatt Papier vor mir. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals in meinem Leben so viele Emotionen auf einmal gefühlt zu haben. Noch dazu bin ich generell ziemlich verkorkst, wenn es um Gefühle geht.

Auf der einen Seite ist da die Überraschung über Olivers Liebeserklärung, die Enthüllung über seine vermeintliche Freundin und den Song. Andererseits unglaubliche Erleichterung, Freude. Irgendwie auch etwas Ärger. Wohl eher auf mich selbst, aber auch ein bisschen auf Oliver dafür, dass er mich so hat zappeln lassen. Aber vor allem ist da ein Gefühl, das gar nicht so einfach zu deuten ist. Oder vielleicht bin ich auch einfach ein zu großer Dummkopf, um es mir einzugestehen. Denn das Gefühl, das alle anderen in den Schatten stellt, ist Liebe.

Liebe, die ich schon so lange für Oliver empfinde. Die ich so lange krampfhaft unterdrückt habe, weil ich nicht wusste, wie ich damit umgehen soll. Doch jetzt - hier in dieser Bar - wird endlich auch meinem Kopf langsam aber sicher bewusst, was mein Herz schon so lange gewusst hat. Und die Worte auf dem Blatt Papier vor mir, sind ein ziemlich sicherer Beweis dafür, dass diese Gefühle nicht einseitig sind.

Da all diese Gefühle und Gedanken jedoch drohen mich zu überfordern, frage ich Oliver, ob er etwas gegen einen Spaziergang einzuwenden hätte.

Als wir schließlich hinaus in die kalte New Yorker Nacht treten, kann ich endlich wieder atmen und hole erleichtert tief Luft.

„Wohin möchtest du gehen?" Will Oliver auf einmal wissen und reißt mich mit seiner Frage aus meinen Gedanken.

Ohne groß weiter darüber nachzudenken, fügt meine Hand sich in seine und ich murmle unsicher. „Mein Hotel ist ganz in der Nähe. Wenn du möchtest..." Ich lasse das Ende meiner Frage offen und sehe Oliver abwartend an.

Eine Weile steht er bloß da, starrt auf unsere verschränkten Finger und scheint das Ende meiner Frage, in seinem Kopf nachhallen zu lassen.

Doch dann sieht er auf und da ist dieses typische Grinsen in seinem Gesicht, dass nicht nur seinen Mund, sondern seinen ganzen Körper einnimmt. „Ich dachte schon, du würdest nie fragen."

~~~

Der Spaziergang zum Hotel ähnelt eher einem Sprint. Dort angekommen drücke ich mindestens fünfzig Mal den Aufzugknopf und muss mich dabei unwillkürlich, an das letzte Mal, als ich das getan habe zurückerinnern. So viel hat sich seither geändert und doch ist es schön zu wissen, dass manche Dinge noch immer beim Alten sind.

Kaum im Aufzug kann Oliver seine Hände nicht mehr von mir lassen. Ich spüre seinen heißen Atem an meinem Hals während er sein Becken, verlangend immer fester an meinen Hintern drückt und mich spüren lässt, wie ungeduldig er bereits ist.

Wir schaffen es gerade noch in mein Hotelzimmer, bevor er schon beginnen will, mir die Kleider vom Leib zu reißen. Doch ich stoppe ihn, als er mit flinken Fingern meinen Hosenknopf öffnet und meine Jeans bis an meine Knie hinunterzieht.

„Warte." Meine Stimme ist nur noch ein Hauchen, so aus dem Konzept, haben seine Berührungen im Aufzug und die Geschehnisse der letzten Stunde, mich gebracht.

„Was?" Olivers Augen suchen die meinen. Fragend und ungeduldig sieht er mich an.

„Findest du nicht, wir sollten... naja... etwas langsamer machen?" Druckse ich verlegen herum und merke wie meine Wangen rot anlaufen.

„Wie meinst du das?" Olivers Hände verlassen den Saum meines Slips. Stattdessen legt er eine davon an meine Wange und streicht sanft darüber.

„Ich meine nur, all die Male, an denen wir Sex hatten, waren so überstürzt und willkürlich. Wir hatten jedes Mal zu viel getrunken und haben uns wie Tiere benommen. Ich weiß auch nicht, vielleicht ist es auch blöd. Aber ich möchte einfach, dass es dieses Mal etwas Besonderes und nicht bloß Fleisch ist." Unsicher senke ich meinen Blick. „Jetzt, da ich weiß, wie ich für dich empfinde, möchte ich dir das auch zeigen können." Füge ich leise hinzu. So leise, dass ich mir gar nicht sicher bin, ob Oliver mich überhaupt gehört hat.

Doch als meine Wangen endlich nicht mehr vor Verlegenheit glühen und ich wieder aufsehe, strahlt er über das ganze Gesicht und ich weiß, dass ich endlich einmal das Richtige gesagt habe.

Ohne ein weiteres Wort nimmt Oliver mein Gesicht in seine Hände und küsst mich. Es ist ein Kuss, der mehr sagt als Worte je könnten. Denn er sagt mir Ich bin für dich da; und Ich bin froh, dass du hier bist; und Ich habe dich vermisst; und Ich werde dich beschützen; und Ich liebe dich.

Sex zu haben ist einfach. Es braucht nicht viel, um es zu tun. Doch jemandem nahe zu sein, mit jemandem Liebe zu machen, bedarf einer ganzen Menge. Und zum ersten Mal in meinem Leben, verstehe ich, warum Menschen oftmals nach ihrem Herzen handeln.

Als Olivers Hände über meinen Körper wandern, er mir süße Worte ins Ohr haucht und schließlich ganz nah bei mir ist, verstehe ich wie man Gefühle, der Logik vorziehen kann.

Denn Zahlen, Fakten und Beweise können einen nie das fühlen lassen, was ich in diesem Moment, als ich mit Oliver zusammen bin, fühle.

Denn eine mathematische Formel für Liebe - welche übrigens L = 8 + 0,5Y – 0,2P + 0,9Hm + 0,3Mf + J – 0,3G – 0,5 (Sm – S)² + I + 1,5C lautet - kann einem nicht ausrechnen, wie sich Leidenschaft, Vertrauen und Liebe anfühlen.

Dazu muss man diese Dinge erleben. Auch einmal etwas wagen, ohne die Folgen genau zu kennen. Spontan und unberechenbar sein. Falsche Entscheidungen treffen, Fehler machen. Auf sein Bauchgefühl hören.

Logik ist toll. Doch das, was ich mit Oliver teile - und dadurch wird es nicht weniger, sondern mehr - lässt sich nicht mit Logik erklären. Sondern nur mit Liebe.

a/n: da ich gestern das letzte kapitel und den epilog fertig geschrieben habe, hier das vorletzte kapitel. der rest kommt dann wie gewohnt nächste woche montag. unglaublich, wie schnell ich dieses buch beenden konnte. danke für eure lieben kommentare und zahlreichen votes! bis montag!
nachtrag: ich freu mich grade irrsinnig, weil ich gesehen habe, dass one more night #46 in short story ist - somit die höchste platzierung, die die geschichte seit veröffentlichung erreichen konnte - yay!

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