Dr. Coyle

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Ich weiß nicht, an welchem Punkt sie genau stehen. Ich weiß nur, von wo aus sie losgegangen sind.

So bin ich Zeuge zaghaft sich nach oben ziehender Mundwinkel geworden, die inniger wirkten, als all jene Gesichtsausdrücke der Zuneigung, die Holmes und Watson jemals zuvor in meiner Gegenwart ausgetauscht hatten. Ich erhaschte hin und wieder einen Blick darauf, wie sie sich in heimlicher Anwandlung gegenseitig ins Visier nahmen.

Die beiden Londoner geben sich vorsichtig. Ich bin nicht sicher, wie klar sie sich einander in den letzten Wochen positioniert haben. Ich bin nicht mal sicher, ob sie sich, wenn sie es getan haben, sicher sind, diesen Weg bis zum Ende gehen zu wollen. Pausenlos mit den amtlichen Gesetzeshütern im Haus.

Aber ich bin mir sicher, dabei gewesen zu sein, als aus Fremdeinwirken, Schädigungen, Komplikationen und nachweisbaren Ausfällen im Genesungsverlauf etwas Eigenes entstanden ist.

Mittlerweile haben Sie sich zumindest in einer neuen Weise erkannt, soweit bin ich mir gewiss. Aber haben sie sich zugelassen? Diese Einschätzung wiederum obliegt mir eigentlich nicht.

Ich will es trotzdem versuchen, denn auch ich kann mich in Vorhaben festbeißen, wenn sie mein Interesse erregen- und das tut die Symbiose dieser zwei Menschen. Dazu muss ich eine Obduktion ihres Zusammenseins vornehmen und das Ergebnis in meinen Kontext einbetten. Ich muss sie sezieren, um den einen Kerngedanken freizulegen, den ich habe, den ich noch nicht aufgeben will: Dr. John Watson eines Tages für mich selbst zu gewinnen.

Sie werden zwangsläufig auf die Thematisierung ihres enger gewordenen Zusammenspiels stoßen, so meine Vermutung. Und wenn das eine Nuss ist, die zu hart für Holmes ist, weil sie von befremdlichen Emotionen ummantelt, von unauflösbar scheinenden Empfindungen umhüllt ist, wird das eintreten, was stets und ständig passiert: Watson wird sich durch seine Funktion als Prüfer und Kontrastgeber von Holmes' Ideengut als unverrückbares Gegenbild einbringen und sich ebenso in die Auseinandersetzung begeben. Sie werden sich an Fragen und Optionen, Irritationen und Varianten wetzen. Bis ihre neue Neugier aufeinander ein wenig Sättigung erfährt und aus der Brutstätte, dem Agieren miteinander, noch ein Stückchen mehr Vertrautheit entsteht.

Meine Theorie lautet, dass es nicht lange dauern wird, bis Holmes etwas entwerfen wird. Er strahlt in Abständen eine enorme Unruhe aus, Umtriebigkeit, muss immer etwas zu tüfteln haben, gräbt quasi nach dem nächsten Problem. Durch seinen analytischen Scharfblick kann er gar nicht übersehen haben, wie Watson sich gebärdet. Das wird ihn stutzig machen und dazu antreiben, dieses Verhalten mit seiner Vorstellung über ihre Verbindung abzugleichen, weshalb er es auch nicht unkommentiert lassen wird. Ja, ich denke, er konstruiert ein Lösungsmodell, erarbeitet, wie sie auch ihren persönlichen Fall knacken können, dessen Opfer- und Täterhaltungen niemand anderes als sie selbst einnehmen.

Watson ist geradlinig, diszipliniert, korrekt.

Wird er langfristig soweit gehen, sich auf mehr als seine freundschaftliche Verbindung einzulassen?

Kann er seinen Status als Partner erweitern, eine gewagte Beziehung aufnehmen zu einem Mann, der in Extremen wandelt, an seinen schlimmsten Tagen einer Ausgeburt von Wildheit gleicht? Kann er ihm widerstehen, wenn dieser ihn in manchen Nächten so eindringlich und zahm anschaut, als würde er mühsam um nichts anderes als seine ganze Beachtung und Anerkennung flehen?

Womöglich kann er das, aber will er das? Wird er es sich so leicht machen?

Für jemanden, der im Dienst der Gesundheit steht, schien er mir schon immer verhältnismäßig wagemutig zu sein. Erst die Verpflichtung zum Militärdienst, dann diese risikobehafteten Unternehmungen in der Ermittlerbranche...

Ich kenne die beiden. Holmes und Watson. Watson und Holmes. Es kommt aufs Selbe hinaus. Sogar einzeln kann man sie gut gebrauchen, dachte ich immer. Da geben sie allerdings nicht halb so viel her wie im Duett, in ihrer ganzen Komplexität. Ein engagierter Arzt und ein erfolgreicher Detektiv, das sind sie für sich genommen. Nicht mehr und nicht weniger.

Verborgen in 221b (Fortsetzung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt