Holmes

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Holmes

Mein Bein liegt nicht ordnungsgemäß ausgerichtet, sondern es baumelt seitwärts von unserem kontinuierlich beanspruchtem Sofa herunter. Ich fröne diesem Verstoß gegen mancher Manns pedantisches Vorstellungsvermögen in wohltuender Lautlosigkeit, welche allerdings nicht lange vorzuhalten verspricht. Neuen Denkstoff über die jüngsten, nur mir bekannten Ereignisse wälzend, sehe ich mich genötigt, unfreiwillig einen Dialog aus der unteren Wohnetage mitzuverfolgen:
"Mr. Holmes wünscht Sie sicher schon zu sehen, gehen Sie nur hinauf."
"Recht so, Mrs. Hudson. Liegt er lang?"
"Ja, er war außer Haus. Nun ist er unpässlich, aber er rechnet um diese Stunde mit Ihrer Rückkehr."
"Gut, ich setze mich dazu."
"Appetit auf einen Lunch hatte er keinen. Ein Quell der Freude ist mir das nicht gerade. Wir müssen doch zusehen, dass er etwas zu sich nimmt!"
"Gewiss."
Watsons unverkennbarer Tritt aus entschlossenem Stapfen und bremsendem Hinken kommt näher und lässt sich linear durchziehend von der untersten bis zur obersten Stufe mitverfolgen. Würde er den Druck auf die Sohlen minimieren, wäre er schwieriger, aber immer noch identifizierbar, zumindest so lange wie ein Drittel des Druckes auf den Ballen nicht übertroffen würde. Die Intervalle blieben.
"Holmes?"
Es ist nur meine Atmung, die mich verraten kann, die ihm verrät, dass hier jemand Lebendiges liegt, in dem noch ein Hauch Leben kämpft. Einen Deut zu schnell, wenn er findig genug ist. Darüber hinaus wird er heute keine Reaktion mehr von mir bekommen. Ich will nicht kommunizieren, nicht mit ihm, nicht mit der Welt. Also rolle ich mich ein, kehre allem den Rücken zu.
"Sie sind sich doch wohl darüber im Klaren, dass ich mir darüber im Klaren bin, dass Sie wach sind? Fast nicht von der Vorstufe des Exitus zu unterscheiden und vortreffliches Reaktionsvermögen. Aber Sie sind wach!"
"Ich bin nicht wach. Lediglich anwesend", antworte ich zerknirscht über die Störung. Die Nähe dieses Mannes macht mich von Tag zu Tag schwindeliger, wo ich einfach nur sachlich zu bleiben versuche.
"Schwacher Versuch, mich zu täuschen."
Ich richte mich auf und klemme mir ein Kissen um den Bauch, errichte eine Barrikade, während er beginnt, ein weiteres Polsterstück unter meiner Kniebeuge hervorzuziehen, es beiseite schleudert und seinen Platz einnimmt. Heute ist er derjenige, der nicht fragt, der mit neuer Präsenz den Raum ausfüllt und anweist, was auch immer er hier will. Als bange er darum, angewandte Passivität im Auftreten auf seiner Berufung aussitzen zu müssen.
"Lehnen Sie sich wieder zurück!" Mit einem Kopfnicken verweist er auf um das Möbiliar verstreute Papiere, systematisch angeordnet, meiner Systematik. "Und erzählen Sie schon, in wessen oder welchem Skriptdurcheinander stöbern Sie da?"
"Das ist Lektüre über eine sonderbare Truppe, die ich aufgetan habe. Hochinteressant. Mit Sicherheit auch für Sie. Und Ihresgleichen...", fange ich an zu palavern, sichere mir mein Terrain, blanke Faktendarstellung. "Die Methoden dieser unsichtbaren Gruppierung zielen auf einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn ab, zumindest ist sie nach Anerkennung bestrebt. Unter exploratorischer Faktorenanalyse versucht sie gemeinhin Studien über pathologische Kausalitäten zu erstellen, obgleich sich ihre Unkonventionalität darauf gründet, dass sie sich schamlos über Grenzen humanitären Allgemeinverständnisses hinwegsetzt."
"Eine geheime Existenz von Pseudowissenschaftlern, die es eigentlich nicht gibt?"
"Anhänger einer Untergruppe, am Rande der Legalität. Signifikant."
Ich bin geneigt, mich noch in dieser Stunde weiter damit zu befassen, weshalb ich zwingend Ruhe brauche. Ich muss Zustandsbeschreibungen über Federn und Tinte wälzen, des Weiteren über mein eigenes Autonomiebestreben, welches hochkocht, gegen meine proportional ansteigenden Verlangensgesuche antritt. Begehren terrorisiert. Mich. Mein Körper dirigiert, fällt Entscheidungen, bevor mein Verstand erfassen kann, was passiert. Durchdreht.
Ergo muss ich eine Taktik entwickeln, mindestens eine. Sowie die Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung berechnen, in einer tiefer gelebten Beziehung verlorenzugehen. So viel zu tun für meinen Kopf, wie gut für die Verdrängung...
Es klappt nicht.

Ich boykottiere Watsons Aufforderung, mich wieder in die Waagerechte fallen zu lassen. Er zeigt sich beharrlich, wie immer, wenn es nicht um ihn selbst geht. Ich wäge ab, ob er meine Signale missverstanden hat, denn bahnbrechend wählt er die Hände, berührt mich plötzlich ohne rechtfertigende Notwendigkeit. Schwer und einnehmend legt er sie mit einem neuen Selbstverständnis auf meinen Schultern ab, setzt uns da fort, wo ich kürzlich aufgehört habe, uns zu ermitteln. Er kommt meinem eigenen Erkenntnisgewinn zuvor und ich zweifle keine Sekunde daran, warum er es tut. Er hat sich entschieden. Will mir ein Zeichen setzen. Ist dicht.
Sachte drückend, schieben mich zwei Hände in Schräglage. Ihr Druck auf meinen Schultern hat zur Folge, dass Anzeichen von Nervosität in mir aufsteigen. Synchron dazu formt mein Hirn die Vorhersage, dass der Doktor sich in einer Umbruchsituation befindet, nicht mehr lange gewillt sein wird, Verzicht auf taktile Nähe zu üben.
Ich kann spüren, wie seine Atemfrequenz minimale Nuancen schneller geht als gewöhnlich. Können Hände atmen? Interessante These. Ein Bild kommt auf. Besitzen sie die Fähigkeit, innere Anspannungen zu zerquetschen, Waagschalen zu deformieren? Konzentration jetzt! Das hat Vorrang, das kratzt nicht an meinem Befinden.
Aber schaffen veränderte Situationen nicht neue Realitäten und verlangen somit nach Angleichungen?
Ich lausche, horche in mich hinein. Kann ich das, meine neue Starre lösen, wenn das Blatt sich wendet? Bin das ich? Ich weiß es nicht, niemals wusste ich weniger, wer ich bin. Mein Leben lang suchte ich die Einsamkeit. Gibt es die überhaupt zu zweit?

Wir wollten uns zu nichts drängen, haben eine stille Übereinkunft getroffen, auf die ich zurückgreifen sollte.
Das konfuse Theater hinter meiner Stirn jedoch bietet mir keinen gescheiten Lösungsweg an, wie ich Watson vorerst loswerden kann, ohne sein Misstrauen zu wecken.
Also offensiv: Sachte umgreife ich seine auf mir ruhenden Handgelenke, um sie verneinend wegzuführen, still um Aufschub zu bitten, ohne seine neu erwachte Bereitschaft langfristig zu verprellen. Meine Handrücken werden von seinen Fingerkuppen berührt, Daumen fahren darüber. Kalt sind sie, kälter als die meinen, welche mir bereits arktisch erscheinen. Augenblicklich werden meine Finger bewegungsunfähig, hypnotisiert von diesem aktiven Gebaren der Zuwendung. Watson wartet einen Moment ab, verharrt mit mir in meiner Reglosigkeit und ich beginne zu hoffen, mir seine Akzeptanz gesichert zu haben.
Meine Ohren machen mit einem Glühen auf sich aufmerksam, aber wenigstens sie funktionieren einwandfrei. Verlässlich lauschen sie jedem Geräusch, das nun wahrnehmbar ist. Nichts. Man könnte eine herunterfallende Stecknadel hören.
Schlussendlich muss er meine Geste anders verstanden haben, denn Watson bleibt, wo er ist. Guckt. Schweigt. Was machen wir hier? Wozu fühlt er sich ermutigt? Warum verschwindet er nicht? Rauchen, trinken, prügeln, sonstigen Sünden frönen.
Ich muss so tun, als würde ich den Widerstand zurücknehmen und ihm Vorlauf geben. Damit er keine Skepsis gegenüber meiner Verweigerungshaltung entwickelt, sich für heute zufriedengibt und endlich das Zimmer räumt, mitsamt der Spannungen, die in der Luft liegen. Wir brauchen unsere Sprache zurück, klare Worte.
"Sie sind ein ausgesprochen hartnäckiger Arzt, Doktor."
"Zu gütig."
Aha. Ironie als Mittel der Tatsachenmilderung. Meine Schlussfolgerung unterlegt einwandfrei, wie er versucht, die ganze Angelegenheit taktvoll aussehen zu lassen! Jetzt, endlich, lässt er von meinen Schultern ab.

Ich lese seine Denkfalten, das ist ein guter Umstand, den werde ich aufgreifen, anschließend ablenken. Er zieht in Betracht, mich in eine zweite Lage Stoff zu wickeln. Und sei es nur des Vertrauensvorschusses wegen, der nach seinem impulsiven Ausbruch neulich eine Restaurierung vertragen könnte. Seine Mimik bekommt das Übliche von mir zur Antwort.
"Es ist nichts weiter. Mich fröstelt nur." Dass es ein innerer Kälteschauer ist, der nicht von der Raumtemperatur herrührt, verschweige ich ihm. In letzter Zeit sieht er mich immer häufiger so eindringlich an wie jetzt. "Missbilligen Sie irgendetwas, Doktor? "
"Ich missbillige, dass Sie meinen Morgenmantel tragen. Wo steckt der Ihre?"
Ich rümpfe die Nase, ob dieser selbst erklärten Nichtigkeit und überhaupt, worüber er sich aufregen würde, an meinem klebe getrocknetes Blut, ob er an einem fundierten Analysebericht der Substanz interessiert sei. Und verkordeln lässt sich sein Mantel bei weitem auch besser, habe ich festgestellt. Doppelt und fest.
Die meisten klebrigen Partikelchen vereinen sich, bekommen eine Aussagekraft in ihrer Masse, entsinne ich mich alter chemischer Befunde. Wie der Klumpen in meinem Magen, resümiere ich und verdammt, ich muss es hinbekommen, diesen Mann in seiner Ahnungslosigkeit zu schützen! Muss ihm etwas über menschliches Agieren verheimlichen und gleichzeitig mit Bedacht zu verstehen geben, dass sich etwas ereignet hat, was jetzt keine Vorstöße in Vertraulichkeiten zulässt.
Er wird keine Eventualitäten von Körperlichkeiten in Betracht ziehen, wenn ich ihn an seiner Berufsehre packe, das könnte besser funktionieren. Als mein eigenes Räuspern abgeklungen ist, höre ich mich sagen: "Sie sind auch immer noch mein Arzt, oder?"
"Was soll die Frage, Holmes? Natürlich bin ich das! Und Sie werden noch lange einen brauchen."
"Ich versuche lediglich, die Fronten zu klären, nicht für mich, wohlgemerkt, damit keine...Irritationen aufkommen. Die Irritation hat uns zwar oft gerettet, statistisch betrachtet jedenfalls, aber... "
"Sie müssen das nicht klären", unterbricht er mich mit fester Stimme. "Sie kennen meine Meinung, meine Bedenken sowieso. Wie gesagt, ich weiß, was ich möchte!" Seine Stimme wird leiser, viel zu brüchig, um unter neutraler Aussagekraft zu stehen. "Ich weiß nur nicht, wie."
Plötzlich wirkt er weitaus instabiler, als ich aus seinem Auftreten abgeleitet habe. Ich bin verunsichert, wie viel ich ihm noch vorgaukeln kann. Ein weiteres Mal versuche ich mich an meinem hinkenden Ablenkungsmanöver und fange bereits an, mich verbal zu winden.
"Vielleicht gerade deshalb...", fasele ich los. "Vielleicht sollten wir das trennen. Vielleicht müssen Sie das trennen, für sich, denn was mich betrifft, habe ich Verruchtes gesehen und es stellt kein Problem dar. Apropos Problem, weil ich weiß, dass es Sie zermartert: Seien Sie versichert, ich störe mich nicht daran, dass Sie mein Arzt sind, bloß..."
Mein Freund erwidert nichts, sondern taxiert mich aus zusammengekniffenen Augen.
"Welches Problem?", fragt er schließlich.

Verborgen in 221b (Fortsetzung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt