Ich habe es gewusst! Ich habe es immer gewusst! Und jetzt ist es offensichtlich.
Meine beiden Mieter sind nicht mehr meine beiden Mieter. Die nicht! Sie summieren sich derzeit zu mehr als zu den zwei alleinstehenden Junggesellen, die sie bisher waren. Nun bilden die Gentlemen eine Einheit, ein Miteinander beim Offenlegen ihrer Empfindungen bezüglich der Qual ohneeinander oder der Entsagung voneinander. Der Horizont ist weiter geworden, als der, den der Doktor in seiner Veröffentlichung über den Fall der Himmelsrichtungen gesteckt hat.
Nicht, dass es mich etwas angehen würde, oh nein. Meine Lippen sind versiegelt. Aber ich möchte betonen, ich habe es gewusst! Schon bevor die Niederschrift in Druck gegangen ist und ich sie gelesen habe.
Meine Augen mögen ihre besten Zeiten hinter sich gelassen haben. Sie sind keiner glanzvollen Klarsicht mehr freigegeben, wie die hier herumliegenden Lupen. Eher wie andere, nennen wir sie 'skurille Dinge', die da im 1. Stock wie Reliquien gehalten werden und einer Politur in schändlicher Weise entbehren. Dennoch, wer so lange unter einem Dach lebt, muss nicht alles sehen, man entwickelt ein Gespür füreinander.
Der kleine Teetisch steht jetzt woanders. Auch die Anordnung der Maskeradeartikel ist überhaupt erst eine Anordnung geworden, die grell-penetrante Schmiererei aus Tuben, die dem weiblichen Subjekt von der Straßenecke alle Ehre machen würden und der zerzauste Perückenschopf, einst das Besitztum einer Tänzerin aus sonstwas für einem verkommenen Varieté, liegen wohlsortiert in einem Schubfach. Ich habe den Plunder nicht zusammengeräumt, nichtmal anfassen würde ich...
Aber was sagte ich gerade? Ja, richtig, wer so lange unter einem Dach mit einem Detektiv des Meisterklassenformats lebt, entwickelt ein Gefühl für die kleinen Bedeutsamkeiten in anderer Leute Leben. Für Wortgewandtheiten zwischen Mitbewohnern, die neuerdings tiefgreifender klingen, unterlegt mit Momentaufnahmen, die von mehr erzählen. Für das Streifen von Blicken, die eingefangen werden, gepaart mit dem kurzen Klopfen einer männlichen Schulter vielleicht, oder dem gegenseitigen zur Hand gehen beim Aufheben heruntergefallener Utensilien.
Als der arme Doktor mitten in diesem Auftrag um die Hamperson-Familie angegriffen wurde und wir nicht daran zu denken wagten, dass es noch schlimmer kommen könnte, habe ich Mr. Holmes bei der Versorgung des Verletzten natürlich zugearbeitet. Aber Zweifel, dass er es ebenso gut allein geschafft hätte, seinen eigenen Arzt zu kurieren, hatte ich nicht eine Sekunde. Weil es ihm ein Bedürfnis war!
Als die Tage grauer und grauer wurden, bis sie in einem tiefen Schwarz versanken, die Tragödie ihren Lauf nahm und durch den zweiten Angriff dann Mr. Holmes' Krankenbett beinahe zum Sterbebett wurde, wandte sich zwar das Blatt der hilfebedürftig gewordenen Person, zu der nun er selbst geworden war, nicht aber das der Intensität des Kümmerns. Mit einer Selbstverständlichkeit übernahm fortan der wiederhergestellte Doktor die komplizierte Begleitung eines Patienten, der schon immer mehr für ihn gewesen war und nun nach Leibeskräften vor seinen Augen ums Überleben kämpfte. Gegen die Stagnation antretend, forderte dieser Körper das Letzte von seinem behandelnden Arzt, aber dieser schien zu keinem Zeitpunkt in Frage zu stellen, wo sein Platz war. Er hatte seine liebe Not mit dieser Zeit der Sorgen und Unsicherheiten. Trotzdem wurde er nicht müde, seinen Übereifer auszuüben und nebenbei noch klebrige Textilien zu wechseln, aus Ampullen zu tränken und aufmunternde Worte zu setzen.
Ich stand oft daneben und war nicht halb so handlungsfähig, denn ich steckte voller Angst und voll von Rührung, was die beiden vor meinen Augen schafften.
Ich habe in meiner kleinen Küche gesessen und mir die Augen an einem Schürzenzipfel getrocknet.
Hier unten ist mein Reich. Hier konnte ich das Gemüse schrubben und meine zu klein geratenen Hände dabei unziemliche Grobheit walten lassen und die düsternen Akzente meiner Befürchtungen mit den Kartoffelschalen entsorgen. Ich konnte den Gedanken an ein vorzeitiges Ableben meines exzentrischen, aber bemerkenswert einzigartigen, Untermieters nicht ertragen. Ich fühlte, wenn es tatsächlich dazu kommen würde, würde es nicht lange dauern und es müsste ein zweites Grab geschaufelt werden. Für seinen Retter, der ihn nicht retten konnte.
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Verborgen in 221b (Fortsetzung)
Fiksi PenggemarDiese epilogische Ergänzung schließt an "Verborgen in vier Himmelsrichtungen" an und lässt all diejenigen zu Wort kommen, die etwas hinsichtlich einer sich seitdem entwickelnden Zuneigungsbekundung beizutragen haben: Mrs. Hudson, Inspektor Lestrade...