Schneeflöckchen, Weißröckchen

552 23 14
                                    


(Lily & Snape)


Der Himmel war noch dunkel vor Schlaf, als Lily an diesem Morgen die Augen aufschlug. Ganz reglos lag sie in ihrem Bett und lauschte in die schwere Stille des Hauses hinein. Etwas musste sie geweckt haben, denn normalerweise wachte sie an schulfreien Tagen wie heute niemals so früh auf. Doch was war es gewesen, das sie geweckt hatte?

Als sie sicher war, dass wirklich niemand außer ihr wach war, schob sie die Bettdecke beiseite und schwang die Beine aus dem Bett. Der Holzboden unter ihren nackten Füßen war ein wenig kühl, aber nicht so sehr, dass sie gleich ihre Socken gebraucht hätte. Stattdessen schlich sie so wie sie war zum Fenster hinüber und schob die schweren Vorhänge so leise wie möglich zur Seite. Draußen war es noch dunkel und nur ein schmaler silberner Streifen am Horizont kündigte vom herannahenden Tag.

Von einer unerklärlichen Neugier getrieben, presste Lily die Nase an die kalte Fensterscheibe und blinzelte angestrengt hinaus in den frühen Weihnachtsmorgen.

„Es schneit!", flüsterte sie nach einigen Augenblicken andächtig, bevor sie zu ihrem Schrank hinüber eilte und die wärmste Kleidung daraus hervor zog, die sie finden konnte. Eine rosa Wollstrumpfhose, darüber ein geblümtes Kleid, eine Strickjacke und dicke, gelbe Kniestrümpfe. Dann öffnete sie ganz vorsichtig ihre Zimmertür und schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Dabei wich sie geschickt allen knarrenden Stufen aus, um ja Petunia nicht zu wecken. Sie wurde immer so böse auf Lily und meistens wusste Lily nicht einmal, wieso.

Am Fußende der Treppe angekommen, lauschte sie noch einmal, dann schlüpfte sie in Stiefel und Mantel, wickelte sich ihren Schal um den Hals, dann schlüpfte sie kaum hörbar durch die Haustür hinaus ins Freie. Die Weihnachtsbeleuchtung, die bisher tot und reglos in der Hecke gelegen hatte, blinkte Lily zur Begrüßung freudig an, so dass der Schnee in ihrem Licht märchenhaft glitzerte. Lachend rannte Lily die Auffahrt hinunter und ließ sich neben der Straße rückwärts auf den Boden fallen. Dort bewegte sie die Arme und Beine hoch und runter, so dass ein Schneeengel unter ihr entstand. Dann legte sie lachend den Kopf in den Nacken und streckte die Zunge heraus, um so viele Schneeflocken wie möglich damit aufzufangen.

„Schon so früh wach, Evans?"

Erschrocken fuhr Lily hoch, lachte aber gleich wieder, als sie den Jungen erkannte, der völlig reglos vor ihr stand und mit hochgezogenen Augenbrauen auf sie hinunterblickte. Sein Mantel war genauso schwarz wie sein Haar und seine Augen, und während er sich selbst kein Stück rührte, tanzte der Schnee aufgeregt um ihn herum, als wäre er lebendig. Er formte sich zu Blumen, Bäumen und sogar zu einem großen Hund, der lautlos bellend zwischen ihm und Lily hin und her sprang.

„Wow", machte Lily bewundernd und vergaß beinahe, ihren Mund wieder zu schließen. „Wie machst du das, Severus? Kannst du mir das auch beibringen?"

„Klar, das ist ganz einfach!" Severus hielt ihr eine Hand hin, um ihr aufzuhelfen. „Pass auf."

Er schloss die Augen und atmete tief durch. Lily spürte, wie die Luft um ihn herum sich kräuselte und auf der Haut kribbelte und Wellen schlug, bevor der Schnee sich in einer dichten Wolke sammelte und nur Sekundenbruchteile später auseinander stob und die Form einer Hirschkuh annahm. Mit klopfendem Herzen und strahlenden Augen stellte Lily sich zu Severus und lauschte andächtig seinen Erklärungen, bevor sie es selbst versuchte. Sie wusste, sie konnte es schaffen. Sie konnte viele Dinge, die sonst niemand konnte. Seltsame Dinge. Lange hatte sie gedacht, sie wäre der einzige Mensch auf der ganzen weiten Welt, der solche Fähigkeiten besaß. Dann aber hatte sie Severus getroffen und gelernt, dass es noch mehr Menschen gab wie sie. Viel mehr.

12 Days Of ChristmasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt