4. Kapitel

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Entspannt schließe ich meine Augen und lausche den Geräuschen des Abends. Ein paar Grillen zirpen um die Wette, das Gemurmel der kleinen Gruppe, die etwas abseits ebenfalls auf der Wiese sitzt, mischt sich dazu. Aus weiter Ferne dringt das Geräusch der Autos auf der Straße zu uns und von irgendwo ist leise ein Flugzeug zu hören. Ein Hund bellt kurz in den Anfang Nacht hinein.

Die Luft ist kühl, doch mir ist nicht kalt. Es riecht nach frischem Gras. Die Wiese unter mir ist etwas feucht, doch das stört mich nicht.

Ich war lange schon nicht mehr hier oben. Erst ein einziges Mal, seit ich hier wohne und im Moment bereue ich das ziemlich. Denn die Aussicht ist atemberaubend.

Der Horizont ist rosarot-orange gefärbt vom letzten Licht der untergegangenen Sonne. Davor zeichnet sich schwarz und klar die Silhouette der Stadt ab. Mehrere helle Lichter blitzen aus der Dunkelheit heraus. In den Wohnungen werden die Lampe angeschaltet und die Straßenlaternen erwachen.

Sofort muss ich an ihn denken. Was er jetzt wohl macht? Doch ich schiebe den Gedanken schnell beiseite. Ich will nicht mehr darüber nachdenken. Ich will ihn vergessen und ein neues Leben anfangen.

„Alles in Ordnung?", flüstert eine warme Stimme an meinem Ohr. Erschrocken drehe ich mich zur Seite und schaue direkt in die tiefgrünen Augen von Avi.

„Ja, alles gut ... Denke ich."

„Denkst du?" Er zieht eine Augenbraue hoch und schaut mich fragend an.

„Na ja, also ...", fange ich an, dann stocke ich.

Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Verdammt! Du darfst jetzt nicht heulen Kirstie. Nicht vor diesem fast komplett Fremden und erst recht nicht wegen deines bescheuerten Freundes. Doch es ist zu spät. Ich schluchze auf.

„Pscht, nicht weinen. Alles wird gut."

Sanft legt er seine Arme um meine Schultern und zieht mich vorsichtig an seinen Oberkörper. Dann beginnt er mich leicht zu wiegen. Ich merke, wie ich mich langsam beruhige und der Kloß in meinem Hals kleiner wird.

„Besser?" Ich nicke und löse mich aus seiner Umarmung.

„Es tut mir so Leid, dass ich hier einfach so anfange zu heulen. Der Tag war einfach nur so nervenaufreibend und ich habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll. Mir kamen einfach nur gerade meine Gefühle hoch und ich wollte das eigentlich gar nicht. Du musst jetzt bestimmt denken, dass ich vollkommen verrückt bin. Kein Mensch schließt sich einfach so einem Fremden an und vertraut ihm komplett, um nur wenig später direkt vor ihm anfangen zu heulen. Ich bin einfach nur so dumm und es ..."

An dieser Stelle unterbricht Avi endlich meinen peinlichen Monolog, indem er mich wieder an sich zieht.

„Stopp Kirstie. Hör auf damit. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe schon viel verrücktere Sachen erlebt. Also höre bitte auf, solche merkwürdigen Monologe zu halten und genieße diesen Moment. Und jetzt schließe deine Augen."

Verwirrt schaue ich ihn an. „Wieso?"

„Hast du nicht gerade gesagt, dass du mir vertraust? Ich verspreche dir, dass ich dir nichts antue. Schließe einfach nur deine Augen."

Ich bin immer noch etwas verwirrt, trotzdem schließe ich sie. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass er die Wahrheit sagt.

„Was hörst du?"

Ich lausche einen Moment, dann beginne ich zu reden: „Die Grillen, Stimmen, die Autos unten auf der Straße."

„Was noch?"

„Knirschen von Kies. Irgendjemand geht den Weg entlang. Und eine Eule."

„Noch etwas?"

Ich lausche weiter angestrengt, doch ich entdecke keine neuen Geräusche. Avi scheint mein Schweigen richtig zu deuten, denn er beginnt zu reden.

„Das ist Musik. Wenn man genau hinhört, findet man sie überall. Jedes Geräusch ist Teil einer ganzen Melodie, alles ergibt zusammen ein großes Konzert, das niemals endet. Die Natur hat die besten Instrumente erfunden: kleine Wasserbäche, der Wind, der durch die Bäume streift, Donnergrollen im Hintergrund. Jeder Ort und besonders jede Tageszeit hat ihre eigene, einzigartige, unverwechselbare Melodie. Was du gerade hörst, ist die der Nacht."

Mit jedem Wort klingt er fröhlicher, glücklicher. Als hätte er dies schon seit langem entdeckt, aber nun zum ersten Mal jemandem erzählt.

„Die Musik der Nacht also", flüstere ich. „Wunderschön."

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Frohe Weihnachten!

Die Musik der NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt