Kapitel 01

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Chicagos frische Sommerbrise wehte durch die großen, weit geöffneten Panoramafenster des modernen Büros in der Chefetage der Firma Morra Bourdain Systems.

Dumpf drangen die Geräusche des nachmittägigen Verkehrs in die oberen Etagen. Sie wurden vom Wind fortgetragen, bis nur noch ein brummendes Rauschen, dem des Meeres gleich, übrig blieb.

Wie gerne hätte Sean sich von dem Wind davon tragen lassen. In seiner Fantasie schwebte er schwerelos über die Dächer der monströsen Bürobauten, die verzweigten überfüllten Straßen entlang und an der hektischen Menge Menschen vorbei, die wild ihrem hastigen Leben hinterherjagten. Verlockend war der kurze Augenblick, den er in Freiheit genießen würde.

Allerdings wäre das Ende seines Ausflugs weit weniger verlockend. Mit einem ekelhaften Platschen, platter als ein Pfannkuchen in der Pfanne, würde er unten aufschlagen. Von ihm würden nicht mehr als gebrochene Knochen und Blut übrig bleiben. Sean dachte kurz über dieses Schicksal nach. Vielleicht war es doch gar keine so schlechte Idee.

„Gefeuert?", stotterte er ungläubig. Er erkannte seine Stimme kaum wieder. Sein ansonsten männlicher, etwas rauchiger Bariton war verwässert und dünn. Trotz der Vorhalte mancher Kollegen, dem Missfallen, die ewigen Diskussionen und dem elenden Gemaule und Gemecker, hatte er selbst seinen Chef für fair gehalten. Aber diese Kündigung war scheiß unfair. Was für ein Arschloch.

Und das ohne den leisesten Hinweis. Einfach so. Kein ‚Hallo, du hast einen Fleck auf dem Hemd, der mir nicht gefällt. Könnte sein, dass ich dich deswegen rausschmeiße.'

Aber besser wäre: ‚Hey, such dir schon mal was Neues. Ich plane dich zu feuern. Verlier nicht gleich den Kopf, ich warte so lange, bis du was Neues findest.'

Stattdessen ließ er ihn sofort ins offene Messer laufen. Viel schlimmer war jedoch das heuchlerische Lächeln auf dessen Gesicht, das Seans glorreiche Zukunft in kleinste Einzelteile zerhackte.

„Mr. Grandy, ich hatte Sie damals eingestellt, weil ich das Gefühl hatte, Sie seien besonders. Mehr, als das, was in Ihrer lahmen Bewerbung stand. Sie hatten so ein Feuer. Verstehen Sie?"

Nein. Eigentlich verstand er überhaupt nichts. Klar, dieser Job war ein absoluter Glücksgriff. Trotz seiner Ausbildung und ein paar ansehnlicher Referenzen und Weiterbildungen reichten seine Qualifikationen bei Weitem nicht aus, um von solch einem bedeutsamen und expandierenden Unternehmen eingestellt zu werden. Aber Sean hatte es probiert, sein bestes Foto für die blöde Bewerbung raus gekramt, sich mit Hochprozentigem Mut in der Toilette angetrunken. Und dann hatte Bourdain ihn mit selbigem Lächeln, das ihm damals nicht so verlogen vorgekommen war, in seiner Firma willkommen geheißen.

„Als Sie mir vor einem Monat die Hand reichten, war es um mich geschehen. Sie verdrehten mir den Kopf. Ich dachte, Sie seien mein Mann."

Irritiert neigte Sean den Kopf zur Seite. Er fand die Wortwahl unglücklich, sagte aber nichts.

Bourdain erhob sich aus seinem gut gepolsterten Chefsessel und ging mit bedächtigen Schritten zu der verglasten Innenfront des Büros, um die Rollläden zu schließen. Sean schnürte es die Kehle zu.

„Leider", Bourdain wurde ernst, „sind Sie mehr mit sich selbst beschäftigt. Machen zu viele Pausen. Reden, anstatt zu arbeiten, und telefonieren oft."

Sean hätte am liebsten bei jedem zweiten Wort protestiert. Denn er wusste, dass einige seiner hoch geschätzten Kollegen mehrstündige Auslandstelefonate auf Kosten der Firma führten und dass sich die Koffeinzombies bereits nach einer Stunde die zehnte Tasse Kaffee aus dem Automaten zogen, anstatt ihrer eigentlichen Arbeit nachzugehen.

Gerade als Sean etwas zu seiner Verteidigung sagen wollte, setzte Bourdain erneut an. „Würden Sie die gleiche Energie in Ihre einfache und doch bedeutende Arbeit stecken, wie in ihre Eheprobleme, dann müssten wir dieses unangenehme Gespräch nicht führen."

Chicago AffairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt