Kapitel 05

727 44 0
                                    

„Zu spät, Mr. Grandy!"

„Es tut mir leid, ich-"

„Das interessiert mich nicht."

„Ich hab' auch nichts anderes erwartet", gab Sean leise zu. Er war völlig außer Atem. Seine Lungen brannten und schmerzhafte Stiche malträtierten seinen Bauch. Mit den Händen stützte er sich auf seinen Knien ab und versuchte ruhig zu atmen.

„Hol das Auto", befahl Bourdain ihm.

„Scheiße, kannst du mir nicht mal sagen, was hier los ist?", fragte Sean verzweifelt. Er merkte nicht einmal, dass er in die kumpelhafte Anrede gewechselt hatte und seinen Chef duzte.

Sofort", ignorierte Bourdain ihn und warf ihm die Schlüssel entgegen, die Sean rechtzeitig auffing, bevor das Metall seine Stirn traf. „Ich hab was Besseres zu tun, als Ihnen beim Atmen zuzusehen."

Was dem wohl wieder für eine Laus über die Leber gelaufen ist?

Kommentarlos spurtete Sean zu dessen Parkplatz. In der Zeit hätte sein Boss ruhig schon das Auto bereitstellen können, wenn er es so eilig hatte. Es waren nur ein paar Minuten, höchstens eine halbe Stunde, die er zu spät war.

Sobald Sean aber das Prachtstück von Auto erblickte, vergaß er sein beschissenes Leben, seinen Chef und die Arbeit und erfreute sich stattdessen lieber an dem Anblick, der sich ihm bot.

Vor ihm stand ein sturmgrauer Audi R8 V10 Spyder. In der nachmittägigen Sonne reflektierte der Lack Seans Abbild, als wäre es ein Spiegel. Das Licht und Schattenspiel erweckte den Eindruck von dynamischer Bewegung, obwohl das Fahrzeug still stand. Die Felgen und die ledernen Seitenteile der Sitze waren blutrot und untermalten die finstere Aura des metallenen Monsters vor ihm.

Sean musste schwer schlucken. Speichel hatte sich in seinem Mund sinnflutartig zusammengestaut. Nicht selten hatte er Bourdains Auto aus der Entfernung bewundert, sich selbst darin vorgestellt, wie er mit der Hand über das in Leder eingefasste Lenkrad strich und seine Faust um den Schaltknüppel gelegt hätte. Er hatte sich das Gefühl vorgestellt, wenn er auf das Gaspedal trat, der Motor laut aufbegehrte und er das Untier zum Leben erweckte.

Er wurde nicht enttäuscht. Die Realität war sogar um einiges besser, als seine Fantasien. Mit dunklem Grollen erwachte der Motor. Unmerklich schwoll Seans Brust an. Er kam sich nicht mehr ganz so bedeutungslos vor.

Selbst die kurze Strecke, die er vom Parkplatz zu Bourdain zurücklegte, reichte bereits aus, damit er sich beflügelt fühlte. Er wurde eins mit dem Auto. In diesen wenigen Sekunden gab es Bourdain nicht. Keine Amanda. Keine Geldsorgen. Und vor allem keine Verpflichtungen mehr.

Doch das Glück währte nicht lange. Sobald er das ungeduldige, genervte Gesicht seines Chefs erblickte, spielte Sean mit dem Gedanken diesen einfach zu überfahren und davonzubrausen. Nur er allein und der röhrende Motor. Allerdings verwarf er diese Idee schnell wieder. Fortuna wäre ihm nicht hold. Binnen weniger Minuten wären die Bullen da, er würde ins Gefängnis kommen. Bitter überrollte ihn die knallharte Realität. Er war nicht zum Vergnügen hier.

,Sklaventreiber', dachte er, als er vor Bourdain zum Stehen kam. Kein Stück Spaß war ihm vergönnt.

Behutsam strich Sean über das perfekt geformte, rot-schwarze Lenkrad. Er seufzte schwer und wollte gerade aussteigen, bemerkte jedoch, dass sein Chef an der Beifahrerseite eingestiegen war. Verwundert runzelte er die Stirn.

„Wenn Sie mit der Speichelsammlung fertig sind, könnten wir dann losfahren?", fragte Bourdain sarkastisch. Seine Stimme hatte den größten Teil seiner Schärfe eingebüßt. Er wirkte jetzt einfach nur angespannt. „Wenn Sie mir auch nur einen Kratzer reinmachen, bezahlen Sie dafür für den Rest Ihres Lebens in Naturalien."

Chicago AffairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt