Fünf.

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Meine Lunge wollte atmen, doch ich wollte nicht.

Jeder Atemzug stoppte abrupt wieder, keine Luft war in erreichbarer Nähe.

Ich kniff meine Augen zu, warf das Kissen gegen die Wand und zog die warme Luft widerwillig ein.

Ich spürte wie mein Brustkorb sich hob und senkte und ich hasste es. Ich hasste es aus tiefstem Herzen.

„Warte Rewi!",rief Felix, der mit einer Infusion vor der Tür stand. Ich drehte mich um und ging weiter

Ich griff wieder nach dem Kissen und presste es ein viertes Mal an diesem Morgen gegen mein Gesicht.

Ich sah ihm in die Augen und ich war verloren.

Ich vermisste ihn so unendlich.
Ich vermisste alles an ihm.
Ein Gefühl so stark, dass nichtmal der Hass gegen mich selbst mithalten konnte.

Und immer wenn ich meine Augen schloss, sah ich seine.

Ich legte das Kissen auf meinen Bauch und zog die warme Luft widerwillig ein.

Felix Hardy. Felix Hardy. Felix Hardy.

Dieser Name wird auf keiner Mathearbeit mehr stehen, auf keinem Abschlusszeugnis, keinem Führerschein. Auf keiner Tabletten Packung, keiner Akte, keinem Tagesplan.
Nur auf einem scheiß Stein war er eingraviert.

Felix Hardy. Felix Hardy. Felix Hardy.

Ich wusste nichtmal welche Zahlen neben seinem Geburtsdatum stand.

Ich wusste nichtmal welches Datum heute war.

Meine Augen blickten müde durch den Raum. Dass Tränen ununterbrochen über mein Gesicht liefen war mir mittlerweile egal. Ich konnte nichts dagegen tun.

Mein Herz sehnte sich so verdammt nach seinem, doch es war nicht mehr da.
Er war nicht mehr da.

Ich drehte meinen Kopf zur Seite, Patrick war schon längst zum Frühstück gegangen. Ich wusste es würde nicht lange dauern und eine Pflegerin würde nach mir sehen.
Also stand ich auf, meine Beine schafften es gerade so mich zu halten. Mit einem meiner Ärmel wischte ich über mein Tränen nasses Gesicht.
Ich verließ unser Zimmer und ging zum Raum der nur zwei Türen entfernt war.
Ich drückte die Klinke herunter und war nicht gerade überrascht als sich die Tür öffnete.

Alles sah so aus wie immer, wie jedes Zimmer auf dieser Station, in dieser Psychiatrie.
Die weißen Betten waren gemacht und kein Fleck war auf dem glatten Boden zu sehen. Es war wie als hätte er nie existiert.

Ich ging zu dem Schrank, in dem ich bis vor kurzem noch meine Sachen aufbewahrt hatte. Aber er war leer.
Felix war weg und er hatte diesen Ort nicht lebendig verlassen.
Schon wieder spürte ich die heißen Tränen in meinen Augen.

„Felix' Eltern haben seine Sachen vor ein paar Tagen abgeholt."
Ich drückte meine Hand kurz auf meine Augen und drehte mich dann um.
Taddl stand in der Tür.
„Hast du sie gesehen?", meine Stimme war genauso trocken und erdrückt wie immer.
Er nickte und ging wenige Schritte in meine Richtung.
„Sein Vater war hier und glaub mir, er hat eingesehen was für ein Arschloch er war."
„Und seine Mutter?"
„Sie ist eigentlich nur seine Stiefmutter. Felix Mutter ist ausgezogen als er neun war, ich glaube das war auch einer der Auslöser für seine Depression."
Ich sah Taddl einfach nur eine Weile an. Wäre Felix mutter nicht gegangen wäre er noch am Leben. Wäre sein Vater nicht so scheiße gewesen, wäre er noch am Leben. Wäre ich nicht so unglaublich -

„Wie war es als Ardy gestorben ist?"
Taddl runzelte die Stirn, vielleicht um seine Gedanken zu ordnen oder vielleicht auch nur um den Schmerz zu vertuschen, der aufkam wenn man den Namen seines toten, besten Freundes erwähnte.
„Komm, wir gehen erstmal aus diesem Zimmer",sagte er und ging aus der Tür. Ich ließ meinen Blick noch einmal durch den so normal scheinenden Raum gleiten und ging ihm dann hinterher, zurück in Patrick und mein Zimmer.

„Es ist grauenhaft",sagte der braunhaarige.
„Es tut immer noch genauso weh, auch wenn es über zwei Monate her ist."
„Wie kannst du aufstehen ohne ihn? Wie kannst du essen ohne ihn? Wie kannst du ohne ihn atmen?",fragte ich leise.
„Kann ich nicht", ein schmerzvolles Lächeln breitete sich auf Taddls Gesicht aus. „Aber ich muss. Ich muss ohne ihn leben, weil -"
Zwei, drei Tränen unterbrachen ihn.
„Weil Ardy es sicher so gewollt hätte und Felix hätte auch gewollt dass du versuchst weiter zu machen."
„Aber Felix ist tot",meine Stimme war nur noch ein Flüstern.
„Ich weiß Rewi, aber du kannst das nicht ändern."
„Aber ich kann ohne ihn nicht atmen und ich will ohne ihn nicht atmen!"
„Ich weiß dass du ihn liebst."
Die Tränen flossen stumm über meine Haut.
„Und er hat auch dich geliebt."

let me forget | Psychiatrie IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt