Sechs.

946 78 3
                                    

„Du hättest es nicht verhindern können."

Ich drehte meinen Kopf nicht zur Seite, als ich Alex Stimme hörte.
Mein Blick war starr auf den Zettel in meiner Hand gerichtet, es war als würde ich dadurch mehr aus ihm lesen können, als die Worte, die tatsächlich geschrieben waren.
Aber ich hatte gehört was Alex gesagt hatte und wäre ich in der Stimmung gewesen, hätte ich gelacht.

Laut und verspottend.

Und wären wir nicht in der Psychiatrie gewesen und wäre nicht vor kurzen meine große Liebe gestorben, hätte ich vielleicht guter Witz geantwortet.
Aber ich lag in dem weißen Bett und blieb stumm.

„Basti, du hättest es nicht verhindern können."

Ein zweites Mal durchbrach seine Stimme meine müde Trance und meine Augen lösten sich von der Schrift auf dem zerknitterten Stück Papier.

„Es war nicht das erste Mal dass Felix versucht hatte sich umzubringen."

Ich hörte ein paar Schritte und dann das Knarzen des Bettes rechts von mir.
„Ganz am Anfang hat er es fast jeden Tag versucht. Mit allen möglichen Methoden, er war nur noch darauf fixiert. Er hat seine Tabletten versteckt, gesammelt und eines Tages zwanzig Stück gleichzeitig runtergeschluckt. Er hat Messer und Scheren und Stifte -", ein unterdrücktes Lachen ertönte. Zu gern hätte ich gewusst welche Situation ihn zum Lächeln bringen konnte.
„Dank Felix wurde die Kunsttherapie verboten."

„Rewi er hat wirklich alles versucht. Du kannst dir nicht vorstellen wie oft ich unser Zimmer betreten habe und er auf dem Boden lag."
Ich wusste dass Alex seine Augen schloss, als ihm die Bilder eines bewusstlosen Felix' zurück ins Gedächtnis kamen.
„Es ist nicht deine Schuld und du hättest es nicht verhindern können. Felix wollte sterben."

Meine Sicht wurde unscharf. Verschleiert von Tränen konnte ich nichtmal mehr den Zettel in meiner Hand sehen.
Zu gern wäre ich in der Lage gewesen zu fragen wieso jemand sterben wollen würde, doch ich kannte die Antwort nur zu gut.

„Er hätte es wieder versucht und irgendwann, nach weiteren unzähligen Malen wäre er gestorben."

Vor meinen Augen erschienen keine Erinnerungen, keine Bilder, die mich zum Lächeln gebracht hätten. Nur die Worte von Patrick, die nur zu wahr gewesen waren.
Ich meine Felix ist seit über nem Jahr hier. Mit unzähligen versuchen, irgendeiner wird klappen.
Denn einer hatte geklappt. Der eine, bei dem ich anwesend war, der eine, den ich hätte verhindern können.

„Kannst du mir etwas von Felix erzählen?",mein Herz sehnte sich nach einem lebendigen Felix, ob in der Wirklichkeit oder nur in Erinnerungen.
Ich setzte mich auf und wischte mit meinem Ärmel über mein Gesicht.
„Ich meine, irgendwelche Geschichten von früher."
Alex nickte stumm und ein sanftes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Als ich Felix das erste Mal getroffen habe, war er gerade aus der Geschlossenen gekommen. Ich weiß noch genau wie überzeugt ich war ihm kein Stück ähnlich zu sein, dabei redete ich zu der Zeit nicht einmal.
Jeden Tag kam er auf irgendeine dumme Idee, wie gesagt, zur Anfangszeit hatte ich kaum Zeit mit ihm verbracht, andauernd war er im Krankenhaus oder auf der Geschlossenen. Aber irgendwann fing er an mit mir zu reden. Er erzählte mir eines nachts alles über sich, alles was passiert war und ich antwortete ihm."
„War er damals anders?"
„Und wie. Felix war absolut emotionslos. Er sagte nie irgendwas über sich, außer in der einen Nacht. Er lachte nicht, er aß nicht und eigentlich hat er nicht gemacht außer sich selbst zu verletzen. Als du damals gekommen bist dachte ich dass ihr euch kennen würdet, weil er plötzlich Interesse an etwas hatte, an dir. Er hat gelacht, er hat sich Sorgen gemacht, es war wirklich wie als hätte er sich komplett verändert. Ich meine, ja, manchmal wurde er wieder zu diesem absolut furchtlosen Menschen, der den Tod als etwas absolut erwünschtes sah, aber er war anders mit dir."

let me forget | Psychiatrie IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt