Kapitel 1.1

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Celestiel kniete sich tiefer ins Unterholz und legte einen Pfeil auf die Sehne ihres Bogens. Vor ihr graste ein Reh, das von einem blauen Schimmer umwoben schien. Ihr ahnungsloses Ziel stand auf einer kleinen Lichtung mitten im Mondsichelwald. Die grazilen, türkisfarbenen Augen der jungen Elfe, behielten es fest im Blick und suchten die beste Stelle für einen tödlichen Treffer. Ihr silbern-weißes Haar war zu einem einfachen Zopf zurückgebunden, sodass dieses sie beim Jagen nicht störten. Sie spannte die Sehne und hielt einen Augenblick die Luft an, um ihre Präzision zu erhöhen. Beim kleinsten Geräusch, das sie vernahm, zuckten ihre spitzen Ohren vor Nervosität. Sie musste sich zwingen ruhig zu bleiben. Schon im nächsten Moment zischte der Pfeil am Bogen vorbei und traf das Reh genau an der Schläfe. Augenblicklich zersprang das Ziel in einer schimmernden, blauen Wolke und löste sich in Luft auf.

Erleichtert richtete sich Celestiel auf. Sie atmete einmal tief durch und freute sich innerlich riesig darüber, dass sie dieses verdammte Reh endlich getroffen hatte, welches sie schon so lange geschlichen hatte. Zufrieden schritt sie auf den Fleck Erde zu, auf dem noch vor wenigen Sekunden ihr Ziel gestanden hatte. Im Erdboden steckte der abgeschossene Pfeil. Sie zog ihn aus dem Boden und betrachtete ihn. Er war unbeschädigt und bis auf ein bisschen Erde sauber geblieben. Ohne einen weiteren Gedanken darüber zu verlieren wischte sie die paar Erdbrocken mit der Hand, da hörte sie bereits Schritte hinter sich.

„Dieses Mal habe ich nicht einmal ein Blätterrascheln hören können." Ihr Bruder Elendriel, kam zwischen den Bäumen hervor und trat mit einem zufriedenen Lächeln auf die Lichtung. Er war etwas größer als sie, hatte dunkelgrüne Augen und langes, kastanienbraunes Haar. Ähnlich sahen sich die beiden nicht gerade, dennoch waren sie im ganzen Dorf als Kinder des Dorfoberhauptes bekannt und sehr geschätzt.

Celestiel begutachtete den blutlosen Pfeil in ihrer Hand. „Es war auch gar nicht so leicht, sich unbemerkt durch den Wald zu bewegen", sagte sie, während sie den Pfeil in den Köcher zurücksteckte. „Vor allem bei so viel trockenen Ästen auf dem Boden."

„Beim nächstes Mal mache ich es dir umso schwieriger", sagte Elendriel mit einem Grinsen im Gesicht.

Die junge Elfe lächelte zwar zurück, doch ernst war es nicht gemeint.

„Wieso müssen wir das eigentlich so oft üben?", fragte sie ihren Bruder. „Warum sollte ich wissen wie man lautlos umherschleicht und Wild erlegt? Wir werden doch ohnehin kein Fleisch essen."

Elendriel seufzte und schwieg kurz. „Ich weiß, dass dir das Jagen keinen Spaß macht. Aber Vater wünscht sich nun mal, dass jeder seine Art der Kampfkunst für sich entdeckt und darin trainiert."

Das hatte sie noch nie verstanden. Ihr ging es auch nicht direkt darum nicht trainieren zu wollen. Eher verabscheute sie den Gedanken ein Lebewesen jagen und töten zu müssen.

„Kann ich nicht einfach an Zielscheiben trainieren?"

„Das hast du schon jahrelang gemacht. Keiner kann ein Ziel aus solchen Entfernungen treffen wie du es tust."

„Aber das macht mir wesentlich mehr Spaß, als einem Reh hinterherzujagen. Ich weiß zwar, dass es nur aus Magie besteht, doch mir gefällt es trotzdem nicht einem Tier nachzujagen."

„Ich weiß das doch. Das ist auch nicht Art.", antwortete Elendriel. Er griff sie sanft an den Schultern und blickte ihr in die Augen. „Auch ich möchte niemals ein Lebewesen jagen und erlegen müssen, doch trotzdem müssen wir für den Zweifelsfall gewidmet sein."

„Ach ja, der Krieg", dachte sie sich und verdrehte dabei innerlich dich Augen. Das Thema konnte sie schon gar nicht mehr hören. Dieser verdammte Krieg hatte kurz nach ihrer Geburt begonnen und begleitete sie schon ihr ganzes Leben lang. Bisher war sie zum Glück noch nie in Berührung gekommen und sie hoffte auch, dass es so bleiben würde.

„Oh verdammt!", entfuhr es Elendriel während er gen Himmel blickte und den Stand der Sonne las. „Ich denke wir haben fürs Erste genug mit dem Bogen trainiert. Lass uns zu Luana gehen. Du weißt doch wie unleidlich sie wird, wenn man sie zu lange warten lässt."

An den hohen dicken Bäumen vorbei und über saftig grünen Waldboden machten die beiden sich auf den Weg ihre Freundin Luana zu treffen.

Jedes Mal, wenn Celestiel durch den Wald hindurchlief, überkam sie ein Gefühl der Sicherheit. Tiefgrün bewuchert und gigantisch große Bäume, in denen man wohnen könnte. Er war schon immer ihre Heimat gewesen. Er beherbergte so viele Pflanzen- und Tierarten, doch eine der Baumarten stach besonders hervor. Sie blieb an einem schlanken, hohen Baum stehen und berührte den glatten Stamm. Diese Art hatte, im Gegensatz zu all den anderen Bäumen, keine grünen, sondern dunkelviolette Blätter und wuchs stets mit großem Abstand zu seines Gleichen.

„Wann meinst du erblühen sie wieder?", fragte sie während sie mit der Hand über den Stamm fuhr.

„Da musst du Vater fragen. Er weiß, wann die nächste Totalfinsternis stattfindet" antwortete er ihr.

Celestiel musste an das letzte Mal zurückdenken. Sie wusste nicht, wie lange das her war, aber sie war noch sehr jung gewesen. Beide Monde, welchen den Nachthimmel zierten, waren in Schatten gehüllt und verschwunden. Das gesamte Land war in eine alleserfassende, undurchdringliche Dunkelheit gezogen worden. Damals verbrachte sie die halbe Nacht im Wald, war in den Bäumen gesessen und ließ sich von dem magischen Schauspiel dieser sogenannten Werbäume verzaubern. Ein leuchtender Strom von Lichtern aller Farben floss über den Boden, ausgehend von den umliegenden Pflanzen zu den Wurzeln jener Bäume. Wie ein Pulsschlag wanderte der Lichtstrom spiralförmig die Baumstämme hinauf, verzweigten sich in der Krone, bis er durch die Blüten austrat und den gesamten Wald in einen leuchtenden Schleier hüllte. Die Werbäume waren für das Volk der Elfen sehr wichtig, denn sie wuchsen nur in ihren Wäldern und ihre hellblauen Blüten öffneten sich nur bei einer Totalfinsternis. Sie erhellten den Mondsichelwald, wenn das gesamte Land der Finsternis zum Opfer fällt. In solchen Nächten dankte man den Wäldern für ihren Schutz und feierte ausgiebig.

„Hör auf zu träumen und lass uns weitergehen", ermahnte er seine Schwester. „Ich möchte sie nicht erleben, wenn sie schlecht gelaunt ist."

Aus den Gedanken gerissen machte sie sich mit Elendriel weiter auf den Weg, bis die beiden schon bald von einem merkwürdigen, schleifenden Geräusch begrüßt wurden. Als sie zwischen den Bäumen hervortraten, standen sie auf einer kleinen Lichtung. Die Sonne schien auf sie herab und erleuchtete den kleinen Platz mitten im Wald. Das Blau des klaren Himmels spiegelte sich in dem kleinen Bach, der sich über den Platz schlängelte. An einer Seite des Wassers lagen einige Felsbrocken, die auf der sonst so leeren Lichtung fehl am Platz wirkten. Auf einem der Steine kniete eine junge Elfe mit langem, blondem Haar. Auf ihrem Schoß lag ein geschwungenes Langschwert, das sie mit einer Hand festhielt. Mit der anderen führte sie in gleichförmigen Bewegungen einen Wetzstein über die Klinge und schärfte sie. Als die beiden näherkamen, blickte sie auf und lächelte ihnen zu.

CelestielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt