Kapitel 38

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Porto, Portugal

Schon eine halbe Stunde bevor ihr Wecker klingelte, lag sie wach in ihrem Bett und ging in Gedanken ihren Stundenplan durch. Der erste Tag nach den Semesterferien war für sie irgendwie immer etwas Besonderes.
Nach den Monaten, in denen Alle im ganzen Land verteilt waren, ihre Familien besuchten oder sich, wie Evelina selbst, in ihre Ferienjobs stürzten, freute sie sich darauf, ihre Freunde wieder vereint bei sich zu haben.
Lucia, ihre Mitbewohnerin in dem kleinen aber wunderbar lichtdurchfluteten Zimmer des Wohnheims, schlief noch tief und fest. Also nahm Evelina ihre Kosmetiktasche, klemmte sich das Handtuch unter den Arm und schlich leise aus dem Raum, um duschen zu gehen. Um diese Uhrzeit hatte sie den Waschraum wenigstens noch für sich alleine.
Evelina ließ das heiße Wasser auf ihre Schultern prasseln und versuchte Ruhe in ihre Gedanken zu bringen, was aber heute Morgen leider nicht wirklich funktionieren wollte. Unentwegt dachte sie darüber nach, was das neue Jahr an der University Porto wohl mit sich bringen würde, welche Herausforderungen warteten und ob sie diese wohl weiterhin meistern könnte. Sie dachte an ihre neuen Kurse, Hausarbeiten, Referate und unzählige Stunden, die sie mit Lernen beschäftigt sein würde. Allerdings wusste sie ja auch ganz genau, warum sie so ehrgeizig arbeitete. Sie wollte es später einmal besser haben. Ein einfacheres Leben, ohne Geldnot und Sorgen führen, wie es sich ihre Eltern bestimmt für sie gewünscht hätten.

Sie träumte so lange, bis das warme Wasser kaum noch reichte, um das Shampoo aus den Haaren zu waschen.
Schnell trocknete sie sich ab, nahm sich dann aber die Zeit ihre stufig gefransten Haare zu stylen, als ihr Augenmerk wie so oft auf die schwarzen Buchstaben auf ihrem Handgelenk fiel. Sanft fuhr sie den Schriftzug mit ihrem Zeigefinger nach. Dieses Tattoo hatte sie, seit sie sich erinnern konnte, seit sie damals im Krankenhaus aufwachte: Zayn. Die Bedeutung kannte sie leider nicht und Evelina hatte lange gebraucht sich damit abzufinden, sie nie herausfinden zu können. Daher entschied sie, dieses Tattoo unter Abändern und Uhren zu verstecken, um nicht ständig darauf angesprochen zu werden.

Als sie die alte Holztüre öffnete, lag Lucia bereits auf dem Ellenbogen abgestützt im Bett und lächelte sie verschlafen an.

 "Sag bloß du bist aufgeregt!”, neckte sie Evelina lachend.

 "Ach Quatsch", stritt sie das Offensichtliche erst ab, bevor sie einlenkte, "Naja, vielleicht ein kleines Bisschen. Du weißt ja wie ich bin."

 "Ja, manchmal bist du echt durch den Wind”, lachte Lucia, bevor sie übertrieben qualvoll aufstand, sich die Augen rieb und mit den Fingern über ihre rot gefärbte Mähne fuhr.

 "Ich dusche auch schnell. Wenn du willst können wir dann ein Stück zusammen laufen."

  "Gerne. Ich brauche eh noch etwas länger."

Während Lucia mit ihrem Handtuch den Flur entlang schlenderte, stand Evelina vor ihrem Schrank und zog die dunkle Jeans sowie das rosa Shirt heraus. Dann packte sie ihre Unterlagen in die alte, braune Ledertasche und setzte sich auf ihr Bett.
Um sich die Zeit, in der sie auf ihre Mitbewohnerin wartete, zu verkürzen, ließ sie ihren Blick durch das Zimmer wandern. Es war im Prinzip genug Platz für die beiden schmalen Betten, zwei Schreibtische und die kleinen Schränke.
Da Evelina nicht sonderlich viele Dinge besaß, störte sie der mangelnde Stauraum eigentlich kaum.
Die Wand über Lucias Bett hing voll mit Postern irgendwelcher Schauspielern, Fotos von Freunden und Familie, sowie einigen Auszeichnungen aus Highschool Zeiten. Im Vergleich dazu wirkte Evelinas Zimmerhälfte sehr karg. Sie hatte lediglich einige Postkarten aufgehängt.

Nach etwas zwanzig Minuten war Lucia in ihr Sommerkleid geschlüpft und hatte es geschafft ihre  Locken zu einem straffen Zopf zu bändigen, sodass die Studentinnen gemeinsam über den Campus laufen konnten.

Amüsiert beobachteten beide wie hunderte von Leuten auf dem Gelände herumstehen und blickten in
unzählige, erwartungsvolle Gesichter. Sie sahen Eltern, die ihre Kinder umarmten und sich mit einem Kuss von ihnen verabschiedeten und ein paar verloren wirkende Nachzügler mit erwartungsvollen Augen und nervös zittrigen Händen.
Die Größe des Campusgeländes schüchterte Evelina damals auch immens ein, aber nach ein paar Wochen fühlte sie sich schon richtig zu Hause.

Der Regen prasselte auf den Asphalt, als Evelina nach ihren Kursen zur Haltestelle rannte, um pünktlich wie vereinbart im Café zu sein. Immer wieder musste sie sich fragen, ob es denn wirklich eine gute Idee war, den neuen Job ausgerechnet in ihrem Stammlokal anzunehmen.

Sie brauchte eine Viertelstunde bis sie ankam.
Es herrschte noch nicht allzu viel Betrieb, so dass sie der Geschäftsführer, Carlos, in Ruhe einweisen konnte.

 „Das Wichtigste ist, dass du den Gästen gegenüber aufmerksam bist und freundliche natürlich“, erklärte er, „Du musst nicht mit fünf Tassen und Tellern gleichzeitig jonglieren. Das lernst du mit der Zeit. Aber wenn hier der Laden voll ist, muss es schnell gehen. Die Leute warten nicht gerne.“

Daraufhin reichte er Evelina ihre Schürze und zeigte ihr nochmal alles, obwohl sie schon so oft hier war, dass sie jeden Winkel des Cafés kannte.

Die Einrichtung war schlicht aber einladend, alles aus dunkelbraunem Nussbaumholz und die Wände hatten einen cremefarben Anstrich.
Den kompletten hinteren Bereich nahm die Theke in Anspruch, hinter der die Kaffeeautomaten, die Bohnen, die Milch und einige Aroma Sirup Sorten standen. Seitlich der Kaffeeautomaten war ein großes Regal mit Tassen und Tellern angebracht. Antonia, Carlos' Frau, bot täglich frischen, selbstgebackenen Kuchen an.
Zuletzt erklärte er Evelina noch kurz die Tischnummerierung und dann konnte ihre erste Schicht auch schon beginnt. Etwas nervös war sie natürlich schon, mochte es sich aber auf keinen Fall anmerken lassen, als eine Gruppe junger Frauen  ins Café kommt und sich an den großen Tisch am Fenster setzte. Evelina warte ein paar Minuten, bis sie die Gäste begrüßte und ihre Bestellung aufnahm.

  „Hallo! Haben Sie sich denn schon entschieden?“

Sie bemühte sich besonders freundlich und souverän aufzutreten, bevor sie hektisch alle Wünsche auf meinen Block notierte.

Pünktlich zur Feierabendzeit der umliegenden Firmen und Geschäfte herrschte Hochbetrieb, sodass Evelina wirklich unter Stress stand. Ihre Füße schmerzten und sie hatte das Gefühl überall an sich Kaffee, Milch und Sahne kleben zu haben. Immer wieder huschte sie zwischen den Tischen und der Bar hin und her, stets bemüht, sich bei jedem einzelnen Gast noch ein Lächeln abzuringen, bis ihre Schicht zu Ende war.

"Morgen wird es mir im Café bestimmt schon leichter fallen, weil ich die Abläufe nun kenne", versuchte sie sich selbst einzureden.

Müde verabschiedete sich Evelina von Carlos und Antonia und verließ mit einem Karamell Macchiato zum Mitnehmen den Laden.
Draußen war es unerwartet heiß. Auf der Straße und dem Gehweg tummelten sich Passanten.
Plötzlich spürte Evelina einen Stoß. Dann fiel sie hart auf den Bordstein, wobei ihr der Macchiato aufs Top schwappt.
Sie brauchte einen Moment um zu realisieren, was passiert war.

  „Tut mir leid.“, hörte sie eine rauchig tiefe Stimme, „Ist alles in Ordnung?“

Als ich sichtlich wütend aufsah, blickte sie in das markantes Gesicht eines jungen Mannes. Ihr Herz raste. Sie hatte das Gefühl, kaum mehr atmen zu können, und es war ihr nicht möglich, den Blick von diesem Mann abzuwenden.
Er war groß und auffällig gut gebaut. Seine Haare waren seitlich kurz rasiert und das Deckhaar so lang, dass ihm die hellbraunen Strähnen ins Gesicht fielen. Sein graues Shirt gab die zahlreichen Tattoos auf seinem Arm preis. Evelina erkannte ein Kreuz, Totenköpfe und Rosen. Alle Motive waren über den Arm mit dunklen Tribals verbunden, ohne Farbe nur in einfachen Grauschattierungen.
Aber es war nicht sein
Erscheinungsbild das ihre Aufmerksamkeit auf ihn zog. Auch seine einnehmende Ausstrahlung war nicht der Grund, warum sie ihren Blick nicht von ihm nehmen konnte. Er hatte etwas an sich, etwas Vertrautes, etwas, das Evelina nicht richtig einordnen konnte.

Hilfsbereit reichte er ihr die Hand und zog sie so schwungvoll nach oben, dass sie nur wenige Zentimeter voneinander trennten. Schüchtern musterte sie sein Gesicht, als sich ein charmantes Grinsen auf seinen Lippen abzeichnete.

 “Tut mir wirklich leid”, entschuldigte er sich noch einmal, “Ich hatte dich nicht gesehen. Ich bin ...”

 “Zayn”, hauchte sie leise.

Curse of TimeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt