11. Kapitel

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Lukes Sicht:

Wieder eine neue Klasse. Ich hasste es. Jedesmal stand man vor dreißig Schülern, die einen unverhohlen musterten, als wäre man ein Ausstellungsstück. Man war so ungeschützt und angreifbar. Man konnte nicht einfach untertauchen, in der Menge verschwinden. Und jedesmal mustre man etwas über sich erzählen. Das war fast das schlimmste, schließlich konnte ich ihnen schlecht sagen, dass mein Vater sich umgebracht hatte, als ich gerade mal acht war und ich derjenige war, der ihn gefunden hatte. Und dass meine Welt danach zusammen gebrochen war. Dass wir mindestens einmal im Jahr umzogen, meine Mutter keinen Job hatte und nur vor sich hin starrte. Ich hatte mein altes Leben hinter mir gelassen. Das wollte sicher keiner hören. Also erfand ich einfach etwas. Letztes Jahr hatte ich meinen Klassenkameraden, in deren Klasse ich genau 150 Tage verbrachte, erzählt, dass meine Mutter im Ausland an einer berühmten Uni arbeitete und ich solange bei meiner Tante lebte. Als ich gehen musste, hatte ich einfach gesagt, dass meine Mutter mich so sehr vermisste, dass ich zu ihr nach Amerika kommen sollte. Diesmal würde ich mir etwas realistischeres einfallen lassen.

Ich stand vor der gesamten Klasse. Die Lehrerin hatte die Hand auf meine Schulter gelegt. Am liebsten hätte ich sie wieder abgeschüttelt. Sie stellte mich vor und fragte natürlich, ob ich noch etwas über mich erzählen wolle. Doch ich schüttelte nur abwesend den Kopf. Ich hatte mir so eine tolle Story ausgedacht, doch nun brachte ich kein Wort heraus. Das lag nicht daran, dass ich eingeschüchtert gewesen wäre, sondern an ihr. Sie war wunderschön. Ihr langes, blondes Haar schimmerte im Licht der Neonröhren. Ihre blauen Augen strahlten wie Sterne und ihr Lächeln... Ihr Lächeln war einfach nur umwerfend. Verdammt, ich konnte mich nicht verlieben. In spätestens einem Jahr zog ich eh wieder weg. Und außerdem konnte es mich schwach und verletzbar machen.

Doch ich musste den ganzen Tag an die blauen Augen denken und in der Nacht träumte ich von ihnen.

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