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Zum dritten Mal an diesem Tag raste Bill zwischen den Bäumen hindurch, dieses Mal auf zwei Rädern, statt auf vieren. Er war aus der Übung, keine Frage. Viel zu lange schon war es her, dass er auf den Komfort seines Bentleys verzichtet hatte und stattdessen den Adrenalinrausch eines Motorrades bevorzugte. Dennoch machte er weiterhin eine gute Figur auf dem Zweirad. Anfangs zwar etwas steif, aber mit der Zeit lockerte er sich und vertraute auf seine alten Fähigkeiten. Nahm die Straße eine Kurve, so legte er sich wagemutig in sie hinein, ging sie stur geradeaus beschleunigte er auf ein beeindruckendes Tempo und führte sie über einen Hügel so nutzte er diesen, um nur noch schneller zu werden.

Er musste so schnell wie möglich zu Flughafen. Der Rest war egal. 

In diesem Moment fuhr er an Alex Unfallstelle vorbei und musste feststellen, dass das Wrack bereits geborgen war. Lediglich die Spur der Verwüstung, die sich durch das Geäst zog und die Bremsspuren auf der Straße zeugten davon, dass hier etwas passiert sein muss. Aber auch das würde in wenigen Wochen in Vergessenheit geraten. 

Langsam lichteten sich die Bäume wieder, ein Zeichen, dass er bald das Ende des Walds erreichte. Er schaltete noch einen Gang hoch und sauste mit röhrendem Motor durch die Landschaft, vorbei an kleinen Bauernhäusern und Feldern mit Kühen, die ruhig in der Sonne grasten. 

Doch trotz seines lebensmüden Tempos  konnte er Christopher und Alex nicht einholen. Kein schwarzer BMW war in der Ferne zu sehen, geschweige denn irgendein anderes Auto. Es war, als wäre er der letzte Mensch auf der Welt. Hätte er im Moment nicht Wichtigeres zu tun, würde er anhalten, sich auf eines der Felder legen und den Tag genießen. Ein Ausweg aus seinem urban-geprägten, stressigen Alltag. Vielleicht würde er öfter in die Natur gehen, wenn das alles vorbei wäre. Eine Art Rückgang zu den Wurzeln.

Aber nun raste er an der Idylle, die er so begehrte, vorbei, ein anderes Ziel vor Augen. Die Straße führte über ein paar weitere Grashügel, bis sie auf eine Autobahn mündete. 

Es war als wäre die Welt mit einem Schlag wieder aufgewacht. Autos tümmelten sich auf den Fahrstreifen, hupten, gaben Lichtzeichen und drängelten sich darum, schnell nach vorne zu kommen. 

Bill schlängelte sich geschickt zwischen den Fahrzeugen hindurch, überholte mal links und mal rechts, was ihm empörte Blicke und den ein oder anderen Mittelfinger einbrachte, aber er kam schnell vorwärts. Zehn Minuten ging das so weiter, bis sich ein Schild mit der Aufschrift 'Flughafen' vor ihm auftat. Ein großer, weißer Pfeil darunter deutete auf die rechte Spur. Er fädelte sich ein, fuhr von der Autobahn ab - immer noch ohne den Wagen der Beiden entdeckt zu haben - und parkte schließlich auf dem Flughafengelände. Achtlos schmiss er seinen Helm neben die Maschine und rannte in das Terminal. 

Welchen Flug würde sie nehmen? Wo würde sie einchecken? Warum war er so dumm und hatte das nicht gefragt? Jetzt irrte er blindlings durch das riesen Gebäude, quetschte sich an gestressten Familien, deren Kinder nicht zu schreien aufhören wollten, und Geschäftsleuten mit Aktenkoffern in der Hand vorbei. 

War er hier schon gewesen? Die Sitzecke kam ihm bekannt vor. Rannte er im Kreis? Wo zum Teufel war das Mädchen? Er musste sie abfangen, bevor sie den Sicherheitscheck durchquerte. 

Zu seinem Bedauern hatte er sein Handy auf dem Tisch bei sich zu Hause liegen gelassen, sonst könnte er Christopher jetzt anrufen. Warum hatte er daran nicht schon gedacht, als er noch daheim war? Dumm!

Während er sich innerlich selber ohrfeigte, wanderte sein Blick erneut durch die Menge. Und da stach ihm der weiße Kopf entgegen, der zwischen all den anderen Schöpfen leuchtete wie eine Laterne. 

"Christopher!", schrie er und stürzte dabei auf den alten Mann zu, nicht ohne in der selben Bewegung den voll bepackten Gepäckwagen eines Familienvaters umzuwerfen.

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