Kapitel 4

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Zuerst war es ein ziemlicher Schock und ich saß bestimmt auch eine ganze Weile mit offenem Mund da, aber eigentlich hatte ich mir meinen Autor genau so vorgestellt: Traumhaft. Nur das das Geschlecht halt nur nicht übereinstimmte mit meiner Fantasie. Pech.

Im großen und ganzen war ich sogar noch viel mehr überrascht, als ich es erwartet hätte, was ja eigentlich ein gutes Zeichen war.

Was ich zu dem Zeitpunkt aber noch nicht wusste, war, dass mich M.D. London auch wiedererkannt hatte.

„Hat es ihnen nicht gefallen?" fragte mich eine Frau, vielleicht Anfang vierzig, welche direkt hinter mir gesessen hatte. „Keinesfalls."antwortete ich. „Das ist schade." erwiderte sie. „Nein, ich meinte natürlich keinesfalls hätte es mir nicht gefallen können."erläuterte ich ihr. Immer noch hatte ich meinen Kopf nicht vom Podest weggedreht. Es war immer noch zu unglaublich, dass ich gerade M.D. London höchstpersönlich getroffen hatte. Noch dazu hatte ich jetzt einen kleinen Einblick in ihr neues Buch bekommen. Und ich wusste etwas, was viele Leute dort draußen nicht wussten: Sie war wahnsinnig gut im vorlesen und präsentieren von Geschichten. Wieder etwas, was mich unsagbar glücklich machte. Aus einem mir komischerweise ungewissen Grund. Die Dame lächelte breit und beugte sich dann zu mir. Sie hatte lange Haare, die sie als Zopf zusammen geflochten hatte. „Mir scheint sie stehen unter Schock." „Ja,so könnte man es nennen. Seit ich sechzehn Jahre alt war, habe ich ihre Bücher gelesen. Schon seit vier Jahren. Mir war noch nicht einmal bewusst, dass sie eine Frau ist. Und sie jetzt leibhaftig zusehen – und dann auch noch so – ist einfach unglaublich." Mir fiel erst jetzt auf, dass die Leute um uns herum angefangen hatten zuklatschen. „Was meinst du mit „und dann auch noch so" ?"fragte die Dame. Nun schien sie mir älter als vierzig. Beinahe sechzig. Ihre Haut schien viel Gepudert worden zu sein, wodurch man einige Falten nicht erkennen konnte, aber dennoch strahlte sie die Aura einer jungen, schönen und vor allem wissenden Frau aus, was mich dazu brachte richtigen Augenkontakt mit ihr aufzunehmen und nicht mehr auf das Podest zu starren. „Finden sie nicht auch, dass sie eine unglaubliche Aura hat." nun starrte die Frau mich unverständlich an. „Ach, vergessen sie es." wand ich mich ab,denn was ich gesagt hatte, war mir peinlich. „Nein, nein. Erklären sie es mir!" forderte sie mich auf und weil ich nicht unhöflich sein wollte, versuchte ich zu erklären, was ich an M. D. Londons Aura so unglaublich fand. „Eine Person wie sie habe ich noch nie getroffen. Ich weiß nicht, wie ich es überhaupt erklären könnte,aber sie wirkt nicht einmal mehr schön – sie wirkt majestätisch.Wissen sie, manchmal wenn ich auf Leute treffe habe ich das Gefühl so eine Art Aura zu erkennen. In ihren Gesichtern, ihrer Mimik und auch ihrer Haltung. Sie wirkt wie eine Königin. Es ist beinahe nicht zu beschreiben, aber sie ist atemberaubender, als ich es mir hätte je vorstellen können. Wissen Sie, was ich meine?" Mittlerweile hatte ich gar nicht mehr an den Blickkontakt zu der Frau gedacht und als ich sie ansah schien sie ein trauriges, fast weinendes Gesicht zumachen. Und sie tat mir urplötzlich leid. „Habe ich etwas falsches gesagt?" fragte ich. Es kam mir wirklich so vor, als hätte ich irgendetwas getan, um sie so traurig zu machen. „Wissen sie, so habe ich sie noch nie gesehen. Ich dachte immer sie wäre steif,vielleicht sogar zu altmodisch für ihr Alter. Auch wenn sie mir schon immer wie eine Frau vorkam, die viel auf ihren Schultern trug,hätte ich nie daran gedacht sie mit einer Königin zu vergleichen.Ich hatte immer das Gefühl, sie sei traurig. So als hätte sie keine andere Wahl, als Verantwortung zu übernehmen. An so etwas hätte ich nie gedacht." ich blieb still. Mir war nicht genau klar, was ich der Frau hätte antworten sollen. Also ließ ich sie einfach weiterreden. „Was ist Ihnen noch an ihr aufgefallen?" fragte sie. Eine kleine Minute überlegte ich, was ich antworten sollte. „Sie hat unglaublich schöne Haare. Die Aura eines Menschen sagt eigentlich alles über ihn aus. Haben Sie ihre Augen gesehen?" fragte ich. Die Dame schaute für einen kurzen Moment noch einmal zum Podest. „Was ist in ihren Augen?" „Haben Sie das nicht bemerkt? Jedes Auge strahlt wie ein Robin. Oder ein Drachenauge. Wissen Sie, dass Drachen von Natur aus sehr kluge Tiere sind? Außerdem sind sie am Ende ihres Lebens um weiten erfahrener als ein Mensch je sein wird. Weil sie länger leben. Auf mich wirkt sie so. Das klingt komisch, aber sie erinnert mich an einen weisen Drachen, der über ein Land regiert. So ähnlich zumindest." ich merkte, wie ich langsam aber sicher abschweifte, weshalb ich versuchte von dem Thema wegzukommen.

Falls sie über Ihre Gabe, die Aura eines Menschen zu lesen, irgendwann mal ein Buch veröffentlichen werden, sagen Sie mir Bescheid. Ich würde es gerne lesen." noch eine ganze Weile saß ich auf dem Stuhl, ohne auch nur einmal darauf zu achten, dass alle anderen Leute schongegangen waren. Sie alle waren nicht derart fasziniert gewesen, wieich. Denn für mich war M. D. London auf einmal realer geworden. Soals würde man einem kleinen Mädchen mit einer Leidenschaft fürEinhörner urplötzlich ein leibhaftiges Einhorn vor die Nasestellen. Für mich war sie schon immer eine unglaubliche Persongewesen, doch nun als ich sie selbst kennenlernen durfte, kam sie mirnoch unglaublicher vor. Viel geheimnisvoller und attraktiver, als ichmir die männliche Variante vorgestellt hatte. „Madame, wollen sienicht langsam ebenfalls gehen? Wir schließen bald. Die nächsteLesung ist erst nächste Woche. Dort vorne hängt eine Anmeldung fürLesungen bei anderen Autoren. Ein Gutschein kostet extra..." mirwar nicht aufgefallen, wie wenig Menschen noch in dem kleinen Saalwaren. Außer ein paar Putzfrauen und mir sowie der Dame von derKasse, die mich nun gebeten hatte, zu gehen, schien alles leer. Auchdie ältere Dame war schon gegangen. Der Fußboden wurde feingesäubert und die meisten Klappstühle, auf den die Zuschauergesessen hatten,schienen auch weg zu sein. „Nein, danke. Ich gehe natürlich.Schönen Tag noch." rief ich und stand auf. Ich wollte auch nichtden ganzen Verkehr aufhalten nur wegen einer lächerlichen (Wie hätteman das nennen können?) Schwärmerei. 

Draußen wares langsam etwas dunkler geworden und vor allem frischer. Ich zog mirmeine Jacke an, die ich vorher in der Lesung ausgezogen hatte undwollte mich gerade auf dem Weg zum Bus machen, als ich vorne an derEcke etwas sah. Eine Frau.

Völlig starrstand ich am Eingang. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, es sei kaltgewesen oder so. Ganz im Gegenteil: Mir schien warm zu werden. Undnicht nur das: Mein Herz raste, mein Puls stieg in die Höhe und ichbekam kaum Luft. Wahrscheinlich hatte sie es gemerkt, denn für einenkurzen Moment schien sie in meine Richtung zu schauen und in diesemMoment hätte ich mich den glücklichsten Menschen der ganzen Weltnennen können. Weil sie mir zulächelte...

Sie hatte einfreches Lächeln. So als könnte sie nur allein durch dieses Grinsenalles bekommen, was sie haben wollte. Das fast erloscheneSonnenlicht, was sich am Horizont nur noch mit einem leichten Rottonzeigte, ließ ihre Aura noch mehr hervorstechen. Und ich sagte mir,dass wenn ich ein Mann wäre ich zu ihr hingehen und sie ansprechenwürde. Und das ich mich allein vom ersten Mal sehen unsterblich insie verliebt hätte.

Hätte...

Würde...

Und zum allerersten Mal in meinem Leben schien mir eine kleine Stimmezuzusprechen. Eine Stimme, wie ich sie noch nie zuvor gehört hatte.Und sie flüsterte: „Was, wenn das egal wäre und du einfach zu ihrgehen könntest?"

"Ja, waswürde passieren, wenn es egal wäre? Ob Mann oder Frau..."



Das Chaos von verliebt und verheiratetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt